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Boris Franzke - ein Portrait


Berlin im Jahr 1962, ein Tunnel unter der Grenze zwischen BRD und DDR: über der Erde fluchtwillige DDR-Bürger, aber auch Grenz-Truppen und Mitarbeiter der Stasi, unter der Erde junge Männer, erschöpft nach wochenlangen Arbeiten, um einen Weg in die Freiheit zu graben. Dann geht alles ganz schnell, die Stasi greift zu, der Fluchtversuch scheitert. Flüchtlinge und Fluchthelfer werden verhaftet oder entkommen um Haaresbreite. Einer von ihnen ist Boris Franzke, Berliner und Tunnelgräber, Bruder und Fluchthelfer, beteiligt an Tunnelgrabungen in den ersten Jahren nach dem Mauerbau. Einige der Grabungen sind erfolgreich und ermöglichen Menschen die Flucht, andere scheitern. Aber immer sind sie verbunden mit einzigartigen Erfahrungen, häufig mit brenzligen Situationen und großen Gefühlen, die auch ein halbes Jahrhundert später nichts an Bedeutung und Eindringlichkeit verloren haben. In zwei Interviews erinnert er sich an sein Dasein als Fluchthelfer, das sich in den Jahren 1962 und 1963 in der geteilten Stadt Berlin abspielt.

Der Weg in die Fluchthelferschaft
Geboren zwei Monate vor Kriegsausbruch 1939 lebt er als jüngster von acht Geschwistern während Kriegs- und Nachkriegszeit mit seiner Familie zunächst im Westteil und dann im Ostteil Berlins. Der Vater kehrt 1955 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, siedelt sich im Westsektor an und auch Franzke kommt zwecks Zusammenführung der Familie zurück in den Westen, während die Mutter im Ostsektor bleibt. Für den jungen Boris und seinen Bruder Eduard bedeutet das Leben in der Mehr-Zonen Stadt jedoch nichts Negatives. Nostalgisch konstatiert er im Gespräch, sie hätten „trotzdem eine schöne Jugend verbracht“ (Interview Boris Franzke), mit Freundschaften in Ost und West. Dann aber kommt der Tag, der für Franzke wie für viele andere Menschen zum Einschnitt in ihrem Leben wird: am 13. August 1961 wird die Mauer gebaut.

„Ich wurde nicht nur von meinen Freunden getrennt, sondern auch von meiner Familie. Meine Mutter, die hat auch noch in Pankow gewohnt, eine Schwester hat noch in Pankow gewohnt. […] Wir haben uns damit nicht abfinden können, wir wollten uns damit nicht abfinden.“((Interview Boris Franzke)

Erschwerend kommt hinzu, dass der Bruder noch Frau und zwei Kinder in Prenzlauer Berg, also im Osten, hat, zu denen er mit dem Gedanken zurückkehrt („Mein Bruder kam nicht klar ohne seine Kinder, ohne seine Frau.“, (Interview Boris Franzke), einen Weg in den Westen für sich und seine Familie zu finden. Diese wird so zum Motivationsschub für das Entwerfen von Fluchtplänen. Die ersten Ideen werden jedoch verraten, sodass im Osten nach Eduard Franzke gefahndet wird. Boris Franzke erzählt, wie er einen Ausweg für seinen sich auf der Flucht befindenden Bruder sucht und findet. Über ein Fenster im Bahnhof der S-Bahn-Station Friedrichstraße gelingt der sprichwörtliche Sprung in die Freiheit, die Familie bleibt zurück. Der Anlass zum Tunnelbauen ist also da: „Wir haben ja damals immer verzweifelt gesucht nach Möglichkeiten, ob Tunnel oder nicht Tunnel, Menschen rüber zu holen, Freunde, Bekannte.“ (Interview Boris Franzke). Und so wenden sich die Brüder Franzke dem Berliner Untergrund zu, sie entwickeln sich zu Tunnelbauern, die bestimmten Strategien folgen. Grenzen werden abgefahren, Bodenbeschaffenheit und Entfernungen zur Mauer geprüft, um geeignete Stellen für Grabungen zu finden. Dabei stoßen sie auch auf andere Menschen, die in den ersten Jahren nach Mauerbau als Tunnelkonstrukteure an den Grenzen aktiv sind. Über ein Jahr lang beteiligen sie sich an Projekten, auf die sie aufmerksam werden, starten eigene Aktionen und nehmen alle damit verbundenen Einschränkungen, Entbehrungen und Gefahren in Kauf. Vier Tunnel sollen hier erwähnt und verlinkt werden, versehen mit Franzkes besonderen Erinnerungen an die einzelnen Projekte.

Die Tunnel
Der erste Tunnel, an dem sich die Brüder beteiligen, ist zwar einer der aufwendigsten, trotzdem scheitert das Projekt in der Wollankstraße aufgrund von Fehlkalkulationen im Januar 1962. Von diesem ersten Misserfolg lassen sich die beiden Franzke-Brüder aber nicht unterkriegen, sie verlagern ihre Aktivitäten nur in ein anderes Gebiet, in die Heidelberger Straße zwischen den Berliner Bezirken Treptow und Neukölln. Hier ist die Entfernung zwischen den Häusern in Ost und West mit 15 bis 25 Metern so gering, dass eine Vielzahl von Tunnelgrabungen und Fluchtversuchen in den beiden ersten Jahren nach dem Mauerbau stattfindet. Das erste Franzke-Projekt soll von dem Gebiet der Hausnummern Heidelberger Straße 26/27 ausgehen, scheitert aber diesmal an Verrat „durch jemanden aus Ostberlin“ (Interview Boris Franzke). Zusätzlich müssen die Brüder die Tatsache verkraften, dass die Stasi ihre zur Flucht bereitstehenden Verwandten verhaftet. Aufgeben wollen sie aber nicht: „Aber es war jetzt keine Trotzhandlung von uns, weiter Tunnel zu graben, sondern wir wollten auch Erfolge haben. Und irgendwann hatten wir ja auch den Erfolg“ (Interview Boris Franzke). Dieser stellt sich aber erst ein knappes Jahr später ein. Vorher beteiligen sich die Brüder an weiteren Tunnelbauten, dabei kommt es im November 1962 im Süden der Stadt zu einem einmaligen Ereignis in der Geschichte von Tunnelfluchten. Die Stasi, die von dem Tunnelprojekt zwischen dem Berliner Bezirk Zehlendorf und dem brandenburgischen Kleinmachnow erfährt, legt eine Sprengfalle, um sowohl eine Flucht aus dem Osten zu verhindern als auch einem möglichen Scheitern bei der Verhaftung der Tunnelbauer entgegenzuwirken. Zwar kann der Sprengsatz durch das vorherige Eingreifen eines bis heute Unbekannten nicht gezündet werden, dennoch gelingt der Ostseite ein Schlag gegen die Gruppe der Tunnelbauer: mit Harry Seidel wird eines der bekanntesten Gesichter unter den Fluchthelfern verhaftet und im Zusammenhang mit den Geschehnissen um den Tunnel Wolfswerder 29 vor Gericht gestellt. Boris Franzke entkommt einer Verhaftung, wird aber erst im April des Jahres 1963 wieder aktiv. Er kehrt dazu in das Gebiet in Neukölln zurück und arbeitet an dem Projekt, das schlussendlich für ihn den Erfolg bringt. Bis zu 20 Personen gelingt die Flucht durch den Tunnel, der zwischen den Hausnummern Heidelberger Straße 35 und 75 für sie gegraben wird.

Ende der Fluchthelferkarriere
Dieses erfolgreiche Projekt in der Heidelberger Straße markiert gleichzeitig das Ende von Boris Franzkes Zeit als Fluchthelfer. Die gemachten Erlebnisse bei den verschiedenen Tunnelbauten führen für ihn in Verbindung mit Veränderungen im privaten Bereich zur Aufgabe weiterer Pläne. Zum einen kommt es zum lang ersehnten Herüberkommen von Mutter und Schwägerin, zum anderen entwickelt sich Franzke auf seinem Lebensweg weiter:

„Ich habe dann meinen Beruf erlernt, bin dann später Malermeister geworden und hab eine Familie gegründet und hab mich jahrzehntelang eigentlich gar nicht mehr für das Thema interessiert.“ (Interview Boris Franzke)

Erst durch Lektüre von Tunnelbüchern (zum Beispiel von Arnold/Kellerhoff: Die Fluchttunnel von Berlin oder von Veigel: Wege durch die Mauer) wird er wieder mit dem Thema aus seiner Vergangenheit konfrontiert. Des Weiteren erfährt er von der Sprengstofffalle in Kleinmachnow und von den Umständen, die zum Ausbleiben der Katastrophe geführt haben. In ihm reift der Wunsch, den Menschen finden zu wollen, der damals die Sprengung verhinderte. Diese Tatsache ist für Franzke Motivation, seine Geschichte zu erzählen. Gleichzeitig knüpft er an sein gelegentliches Auftreten als Zeitzeuge die Hoffnung, dass seine Erlebnisse im Zusammenhang mit der Mauer nicht in Vergessenheit geraten und für nachfolgende Generationen, die die Zeit der Trennung zwischen West und Ost nicht miterlebt haben, zur Erinnerungshilfe werden können:

„Natürlich haben das Millionen erlebt, aber die, die heute noch darüber berichten können, das werden ja immer weniger. Und die anderen Menschen sind natürlich voll darüber erstaunt, dass man sowas überhaupt erleben konnte, dass sowas überhaupt möglich war, wenn man das so erzählt. (Boris Franzke im Interview)




Bild: Boris Franzke bei der Einweihung der Gedenktafel für Heinz Jercha im März 2012




Literaturliste
Arnold/Kellerhoff, 2008; Veigel, 2011
Sonstige Quellen: Interviews mit Boris Franzke vom 2.2.2012 und 14.5.2012

Text: Sophie Salmen