Richtung: von Westberlin nach Ostberlin
geplanter Verlauf: Tunnel S-Bahnhof Wollankstraße zur Schulzestraße 40
Länge: geplant ca. 80 m, gegraben ca. 30 m
Der S-Bahnhof Wollankstraße bildete einen Teil der Grenze zwischen dem Westberliner Stadtteil Wedding und dem Ostberliner Pankow
Zeitraum: September 1961 - 27.1.1962
Fluchthelfer: Lose Gruppe um einige TU-Studenten und die Brüder Franzke
Offensichtlich beginnen erste Vorbereitungen zu dem Projekt im September 1961; es bildet sich eine mehrheitlich aus Studenten bestehende Gruppe um Max S. mit dem Ziel, Freunde und Verwandte nach Westberlin zu holen. Die Idee, einen Tunnel im Umfeld des Bahnhof Wollankstraße zu bauen, muss wohl recht früh entstanden sein, da bereits im Oktober ein Kontakt zum Besitzer der Werkstatt in der Schulzestraße 40 hergestellt wurde. Kontaktmann war Herr K., der ebenfalls in der Schulzestraße wohnte und dessen Sohn Ingo Teil der Fluchthelfergruppe ist. Als Kurier fungiert Max, der einen westdeutschen Pass besitzt.
Der S-Bahnhof Wollankstraße gehörte zwar zu Ostberliner Gebiet, wurde aber nur von
Westberliner Fahrgästen benutzt. Der Abgang nach Ostberlin war gesperrt. Die nach Westberlin orientierten S-Bahnbögen unter dem Gleisbett und dem Bahnsteig waren z.T. vermauert bzw. durch eine Bretterwand abgedeckt und unzugänglich. Von der Ostberliner Seite her konnten sie nicht betreten werden. Damit bildete die Westseite des Bahngeländes mit Bahnhof die eigentliche Grenze.
In den folgenden Wochen wurden die Örtlichkeiten genauer untersucht, Material gekauft, ein Zeitplan erstellt und mögliche Flüchtlinge im Osten informiert. Der eigentliche Baubeginn ist nicht mehr genau rekonstruierbar, dürfte aber im Dezember oder Januar gewesen sein. Klaus M. jedenfalls erinnert sich noch daran, dass sie in der Nacht vor Baubeginn Sorge wegen möglicher Schneefälle hatten. Ihre Spuren beim Eindringen in die S-Bahnbögen wären verräterisch gewesen und hätten das Unternehmen gefährdet. Am nächsten Tag lag kein Schnee, der Kleinbus war mit allem Material und Teilen der Gruppe beladen und es konnte losgehen. Eines der Tore an einem S-Bahnbogen wurde geöffnet, der Bus fuhr rein, die Tür wurde geschlossen und vermutlich hat niemand was bemerkt. Um zum eigentlichen Startpunkt zu gelangen mussten mehrere Mauern zwischen den einzelnen Bögen durchbrochen werden. Hier wurde ein senkrechter Einstiegsschacht gegraben; 3 Meter waren geplant, aber bereits nach ca. 2m trat Grundwasser aus. Dann wurde der Tunnel waagrecht vorangetrieben, etwa 1,2m breit und 1,5m hoch. Der Aushub konnte in den Gewölben gelagert werden. Die Situation im S-Bahnhof wurde später von der DDR-Seite grafisch dargestellt, für eine Vergrößerung die nebenstehende Zeichnung anklicken.
Obwohl der Tunnel durchaus mit Bretter ausgesteift worden war, bricht bereits am 2 Tag nach wenigen Metern die Decke ein. Klaus M., der gerade gräbt, wird durch den herabstürzenden Sand vom Ausgang abgeschnitten aber nicht direkt verschüttet. Die Stelle wird nach oben hin zusätzlich verbaut, der Sand entfernt, Klaus kann wieder zurück, aber allen sitzt der Schreck in den Gliedern.
Aufgrund dieser Erfahrung wird beschlossen, den Tunnel mit Wellblech nach oben hin besser abzusichern. Verabredet wird, dass die Studenten das neue Material besorgen während Klaus M. in dieser Zeit wieder arbeiten geht.
Entgegen dieser Absprache arbeitet die Studentengruppe weiter. In dieser Phase findet eine zweite Gruppe junger Fluchthelfer um Boris Franzke auf der Suche nach günstigen Stellen für einen Tunnelbau zufällig die S-Bahn-Bögen. Die etwas brenzlige Situation beim Treffen beider Gruppen wird entschärft, beide Gruppen arbeiten gemeinsam weiter. (Ein Portrait von Boris Franzke finden sie
hier, den Tunnelbau aus seiner Sicht
hier).
Gemeinsam schaffen die Fluchthelfer eine Strecke von ca. 30 Metern.
Am 27.1. 1962 bricht ein kleiner Teil des Bahnsteigs ein
(Bild), Bahnarbeiter gehen der Ursache nach, inspizieren von Westberlin aus die S-Bahnbögen und entdecken den Tunnel.
Reichsbahner bei der Inspektion des Tunnels
Foto: Junge, Peter Heinz
Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive),
Bild 183-90157-0001
Da aber für andere DDR Offizielle der Zugang über den Westen nicht möglich war, mußten Pioniere der Volkspolizei den Zugang zu den Bögen von Ostberlin und den Durchgang zwischen den einzelnen Bögen öffnen. In der Zwischenzeit konnten die Tunnelbauer noch Teile des Materials und des Bauholzes abtransportieren, offensichtlich mit Hilfe offizieller Stellen.
Über die Ursache des Einsturzes wird verschiedentlich spekuliert. Im Spiegel (siehe den Link am Seitenende) wird behauptet, daß die Aussteifung den S-Bahn Erschütterungen nicht standgehalten hatten, Ellen Sesta (2001, siehe Literatur) dagegen schreibt, dass der lose Sand aufgrund der ständigen Vibrationen zwischen den Brettern durchgerüttelt wurde und dadurch der Hohlraum entstand. Klaus M., der erst nach der Entdeckung von Max informiert wurde und entsprechend enttäuscht war, ist sich aber sicher, dass der erste Einsturz die Ursache war.
Reaktionen und Medien
Am 29.1. erfolgt eine schriftliche Meldung beim Regierenden Bürgermeister im Zuge der täglichen Ereignismeldung. Die Meldung ist von Duensing, dem damaligen Westberliner Polizeichef unterschrieben, in einer handschriftlichen Notiz wird angeregt, den Tunnel zu zu schütten um weitere Fotos und Propaganda zu verhindern. Außerdem wird darauf hingewiesen, daß möglicherweise der Tatbestand der Transportgefährdung vorliegt. In einer zweiten Handschrift ist ein dickes "ja" danebengeschrieben, was wohl vermuten läßt, daß die entsprechende Senatsdienstelle dem Vorschlag zur Strafvereitelung zustimmte.
Pressekonferenz auf dem Bahnsteig
Foto: Hesse, Rudolf
Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive),
Bild 183-90157-0002
Das Ostberliner Transportministerium hält am 1.2.1962 eine internationale
Pressekonferenz ab, veröffentlicht eine offizielle Stellungnahme und fordert die Auslieferung von „namentlich bekannten Studenten“, die dabei waren. (Heaps, S. 120,121).
Am 2.2. veröffentlicht das
Presseamt des Westberliner Senats eine Stellungnahme, in der den Fluchthelfern auch weiterhin der Respekt aller Mitbürger versichert wird, weil, so der Wortlaut: "Bei solchen Versuchen sind bestehende Gesetze nicht verletzt worden. Die von den Kommunisten errichtete Mauer stellt keine Staatsgrenze dar."
Die
Berliner Zeitung vom 25.2.62 veröffentlicht die Namen der Fluchthelfer, im
Neuen Deutschland vom 25.2. wird von einer Reihe Verhaftungen berichtet, verschiedene Haftbefehle u.a. gegen einen ungarischen Studenten werden ausgestellt. Erstmals werden als "Untergrundzentralen" die Ihnestraße 22 und der Sitz der UFJ (Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen), die Limastraße 29 genannt.
In einer
RIAS-Sendung verteidigt sich einer der Studenten gegen die Anschuldigungen: er wäre erst am 17.10.61 aus der Zone geflohen, lebe sich gerade erst ein und habe nichts mit der Sache zu tun.
In den
Akten des BSTU finden sich Protokolle von Vernehmungen eines Fluchthelfers aus der Franzke-Gruppe. Der damls 24 jährige Maler aus Kreuzberg gibt an, dass die Girmman-Gruppe den Tunnel organisiert habe und die Fluchthelfer Hilfe der Westberliner Polizei hatten.
Am 29.6. 62 berichtet die
Berliner Zeitung über die Anklageerhebung gegen einen Fluchthelfer, der im Zusammenhang mit dem Tunnel verhaftet worden sei.
Vom 11.1.63 gibt es in den Akten eine Aussage des Besitzers der Werkstatt im Zielgebäude Schulzestraße. Das Gerücht, einer der Studenten, ein Bergbaustudent, habe für das Tunnelprojekt von der TU ein Vordiplom bekommen, welches ihm nach dem Einsturz wieder aberkannt worden sei, hält sich hartnäckig. Verschiedene Quellen beziffern die Baukosten auf etwa 8000 DM.
Irgendwann 1964 - das genaue Erscheinungsdatum ist nicht vermerkt - präsentiert die Generalstaatsanwaltschaft der DDR unter dem Titel
"Beweise" eine Zusammenfassung der Aggressionshandlungen an der Mauer, in der auch Informationen zum Tunnel Wollankstraße publiziert werden.
Nach dem heutigen Kentnisstand ist vieles in diesen Darstellungen zum Tunnel falsch oder verfällscht. Klaus M. erinnert sich, dass keiner der Studenten die Personen kannte, die namentlich als Fluchthelfer genannt und zur Fahndung ausgeschrieben waren. Auch die Girrmann-Gruppe hatte wohl nichts mit dem Tunnel zu tun. Anders dürfte es sich mit der Weddinger Bereitsschaftspolizie verhalten. Zwar erinnerte sich Klaus M., dass sie in den ersten Tagen sehr in Sorge wegen einer möglichen Entdeckung durch die Westberliner Polizei waren; die Kontakte gerade der Weddinger Polizei zu den Fluchthelfergruppen sind aber mittlerweile gut belegt.
Die Ursprungsgruppe um Max S. gab nicht auf, sondern baute ein Auto so um, dass sich eine Person darin verstecken konnte. Alle Verwandten und Freunde wurden auf diese Weise bis Ostern 1962 in den Westen geschleust.
Literaturliste
Sesta Ellen, 2001, Der Tunnel in die Freiheit // Heaps Willard A., 1964, The wall of shame
Akten der BStU: ZAIG 10756 // HA IX 12390 MF
sonstige Publikationen: Befehdet seit dem ersten Tag, 1981// Du und die Mauer
Presse: ND 2.2.62, 25.2.62, 25.2.63
Weitere Quellen: Interviews mit Klaus M. und B. Franzke
Links
Spiegel 13/1962: Der dritte Mann wartete im Grab
Wikipedia: Zum Tunnel Wollankstraße
Text: U. Bauer