TF MAPPING

Tunnel Wolfswerder 29



Die Sektorengrenze zwischen dem Westberliner Zehlendorf (oben) und der DDR-Gemeinde Kleinmachnow. Im fraglichen Bereich ist die heutige Karte durch eine Stasi-Skizze ergänzt. Die Grenzanlage bestand damals aus zwei Maschendrahtzäunen zwischen denen in regelmäßigen Abständen Lampen standen (orange). Die damaligen Gebäude sind in blau markiert, der Tunnel in grün.
Kartengrundlage: OSM; Skizze des MfS aus: Veigel, 2011, S. 278


Auch im Süden Berlins sind Tunnelprojekte geplant und durchgeführt worden. Im Oktober und November 1962 graben die Brüder Boris und Eduard Franzke zusammen mit drei weiteren Helfern auf dem Gebiet zwischen der Neuruppiner Straße im Bezirk Zehlendorf und dem Haus Wolfswerder 29 im zum Ostsektor gehörenden brandenburgischen Kleinmachnow einen Tunnel. Da sich das Gelände westlich der Mauer im Bauzustand befindet, eignet es sich nach Ansicht der jungen Männer zur unauffälligen Errichtung einer zusätzlichen Bau-Bude, in der die Beteiligten für die Wochen dauernden Grabungen verschwinden können, um die recht große Distanz in Richtung Mauer überwinden zu können („Der Tunnel war 70m lang. Das war der längste Tunnel, den wir eigentlich gegraben hatten, ein maximaler Durchmesser von 80 cm.“ (Boris Franzke im Interview). Da im Laufe der Arbeiten ein weiteres Paar Hände gebraucht wird, stößt Harry Seidel, ein bekannter und sehr aktiver Fluchthelfer, Anfang November zur Gruppe. Er wird noch eine entscheidende Rolle einnehmen. Denn kurz vor der terminierten Flucht, die für den 14. November 1962 geplant ist, kommt es im Tunnel zur Diskussion zwischen den Franzke-Brüdern über den ersten Ausstieg im Osten. Da der Durchbruch aufgrund von Termindruck gemacht werden muss, ohne dass das eigentliche Ziel, das Haus Wolfswerder 29, erreicht ist, erklärt sich Seidel bereit, durch den einsehbaren Ausstieg im Garten zu kriechen und die fluchtwilligen Menschen aus dem Haus zu holen, Kurz nach 21 Uhr klettert Seidel aus dem Loch und schleicht zum Haus, während für die im Tunnel Wartenden Minuten zu Stunden werden. Über der Erde aber greift die Stasi zu, die über das Projekt informiert ist und auf die Fluchthelfer und Flüchtlinge wartet. Die Frage, wer der Verräter gewesen sein mag, ist bis heute unklar. Es gibt Vermutungen, dass eine Person aus dem engeren Umfeld der Fluchthelfer dafür verantwortlich zu machen sei, die Stasi auf die Grabungen unter der








Wolfswerder 29, Katharina Heupel, 2012.


Sektorengrenze aufmerksam gemacht zu haben. Daher ist die DDR-Macht vorbereitet und verhaftet den erscheinenden Seidel, den sie dann wiederum zum Herauslocken der anderen Tunnelbauer nutzen will. Seidel jedoch kann seine Kollegen durch lauten Stimmeneinsatz warnen, sodass diesen der Rückzug in die Sicherheit des Westsektors möglich ist. Für diesen Fall hat die Stasi aber vorgesorgt: eine zwischen den Häusern Wolfswerder 32 und 34 dem Tunnelverlauf folgende Sprengladung soll, da der Zugriff auf alle Fluchthelfer nicht erfolgreich zu sein scheint, gezündet werden, um den Rückzug der Helfer zu verhindern. Dabei werden billigend schwere Verletzungen oder deren Tod in Kauf genommen. Boris Franzke sagt im Rückblick:

„Die haben versucht, uns im Tunnel in die Luft zu sprengen. Sie haben da eine Sprengladung an diesem Tunnel angebracht und wollten uns in die Luft sprengen. Die haben genau gewusst, dass wir uns gerade zu dieser Zeit, als gesprengt werden sollte, im Tunnel befinden […].“ (Interview Boris Franzke)

Aber nicht nur die sich noch im Tunnel befindenden Fluchthelfer sind in Gefahr, auch ein sich zufällig in unmittelbarer Nähe zum Sprengstoff aufhaltendes junges Pärchen hätte die Explosion wahrscheinlich nicht überlebt. Dass die Katastrophe ausbleibt, verdanken Franzke und die anderen dem ominösen Faktor X, denn der Sprengsatz zündet nicht. Die Kabel sind vorher durchgeschnitten und damit unbrauchbar gemacht worden. Auch wenn von der Stasi unmittelbar danach eine Untersuchung angeordnet wird, die den möglichen „Saboteur“ aus den eigenen Reihen überführen soll, ist bis heute ungewiss, wer einem Schutzengel gleich seine Hand über die Tunnelbauer hielt. Der verhaftete Harry Seidel aber wird nur sechs Wochen später vor das Oberste Gericht der DDR gestellt. In dem öffentlichen Schauprozess werden ihm die Bereitschaft zur „Anwendung von Schusswaffen gegen die Sicherheitsorgane der DDR“ sowie das Tunnelgraben zum „Zweck, Terroristen und Agenten in das Gebiet der DDR einzuschleusen“ (Arnold/Kellerhoff (2008), S.90) vorgeworfen. Er wird am 29. Dezember 1962 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, von der er vier Jahre ableisten muss, bevor er im September 1966 von der Bundesrepublik freigekauft und nach Westberlin gebracht werden kann.

Literaturliste
Arnold/Kellerhoff, 2008; Veigel, 2011
weitere Quellen: Interviews mit Boris Franzke vom 2.2.2012 und 14.5.2012

Text: Sophie Salmen