Bernauer Straße zwischen Brunnenstraße und Wollgaster Straße.
Die Gebäude mit den Tunneleinstiegen sind grü,
die Mauer ist rot markiert.
OSM-Karte, ergänzt um den alten Baubestand (in blau)
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„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Das behauptete Walter Ulbricht am 15. Juni 1961. Weniger als 2 Monate später, am 13. August 1961, war jedoch das Gegenteil Tatsache geworden: auf Befehl der DDR-Regierung wurde an der Grenze zu Westdeutschland eine Mauer errichtet, die den Flüchtlingsstrom von Osten nach Westen verhindern sollte. Dieser „antifaschistische Schutzwall“ (von Horst Sindermann geprägt) wurde mit allen Mitteln verteidigt – auch wenn es Menschenleben forderte. Viele Familien, Freunde und Liebende wurden deshalb bis zum 9. November 1989 voneinander getrennt, für sie war die Mauer ein unüberwindbares Hindernis. Andere waren immer wieder auf der Suche nach Schwachstellen in der Grenze. Sie organisierten Fluchten oder flüchteten selber und riskierten dabei ihre Freiheit und ihr Leben. Einige gruben sich unter der Mauer hindurch und verhalfen so Menschen zur Flucht. Ein Beispiel ist der Tunnel 29, der von der Bernauer Straße in die Schönholzer Straße führte. Er brachte 29 Leuten die Freiheit, die namengebend für den Tunnel waren.
Im Folgenden werde ich die Geschichte des Tunnel 29 nachzeichnen, der bis dato die größte Massenflucht nach dem Mauerbau ermöglicht hatte („Der Tunnel – die Dokumentation“).
Der Tunnelbau
Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 konnte sich auch Peter Schmidt-Vogel endgültig nicht mehr frei in Deutschland bewegen. Peter studierte an der Hochschule der Künste in Berlin und hatte sich dort mit dem Kommilitonen LUIGI (GIGI) SPINA
(1),
, der die gleiche Malerklasse besuchte, gut angefreundet („Der Tunnel - Die Dokumentation“). Er lebte mit seiner Jugendliebe und Frau Evelyne und ihrer gemeinsamen Tochter Annette an der östlichen Stadtgrenze von Berlin in Wilhelmshagen. Im Frühjahr 1961 kam Luigis alter Schulfreund DOMENICO (MIMMO) SESTA nach Berlin, um dort sein Studium an der Technischen Universität zu absolvieren. Er lebte mit Luigi in einem Studentenzimmer, das nicht unweit der Gedächtniskirche und zu Fuß in 15 Minuten vom Steinplatz entfernt lag (Sesta 2001: 14). Auch er freundete sich gut mit Peter an und nach dem 13. August war es ihnen dank ihrer italienischen Reisepässe möglich, ungehindert Peter in Ost-Berlin zu besuchen (Sesta 2001: 21-22). Die Lage zwischen Sowjetunion und Alliierten verschlechterte sich aber. Für Peter, der nicht DDR-konform war, stand fest: er musste so schnell wie möglich fliehen. Hinzu kam, dass er Ende des Jahre 1962 zur Volksarmee einberufen werden sollte. Im Februar 1962 bat er deshalb Luigi und Domenico, ihm und seiner Familie bei einer Flucht zu helfen. (Sesta 2001: 27)
Die Schwierigkeit bei den Planungen war Peters Tochter Annette, die erst wenige Wochen alt war. Eine Flucht unter Lebensgefahr war deshalb undenkbar, eine Flucht unter Verhaftungsgefahr war in Kauf zu nehmen. Zuerst überlegten Luigi und Domenico, Peter und seine Familie per Hubschrauber über die Grenze zu holen („Unternehmen Reisebüro“). Der missglückte Tunnel
WOLLANKSTRASSE
gab ihnen schließlich die Idee, auf demselben Wege nach Osten zu gelangen. Mit dieser Entscheidung begannen die Planungen für die Flucht ihres Freundes Peter.
Die Planung
Zuerst suchten Luigi und Domenico nach einer geeigneten Stelle und inspizierten über eine Woche die Mauer. Die Stelle sollte der Stasi noch nicht bekannt sein (Sesta 2001: 29-30) und das Problem des hohen Grundwasserstandes in Berlins sandigem Boden musste gelöst werden. Der Bezirk Wedding schien dafür ein geeigneter Bezirk zu sein, da er auf einem Hügel liegt und der Grundwasserspiegel tiefer genug ist. Allerdings war dort die Distanz zwischen den bewohnten Häusern im Westen und Osten am größten. („Der Tunnel – die Dokumentation“).
Domenico und Luigi sprachen während ihrer Überlegungen zu einem Tunnel mit unterschiedlichen Menschen. Dabei lernten sie die Mutter einer Freundin von einer Bekannten von Luigi kennen. Diese Beamtenwitwe wiederum kannte einen jungen bulgarischen Ingenieur, der in Ost-Berlin lebte und arbeite. Er war außerdem Überbringer für kleine Geschenke oder Briefe an Verwandte oder Bekannte. Am gleichen Tag noch lernten sie den Bulgaren kennen, mit dem sie sich sofort gut verstanden. Ohne von ihren Plänen zu wissen, lud er Domenico und Luigi zu sich ein. Zu deren Freude wohnte er in der Rheinsberger Straße, ganz in der Nähe der Bernauer Straße. (Sesta 2001: 30-31)
Sesta und Spina besuchten den Bulgaren im Osten. Auf ihrem Nachhauseweg gingen sie in Richtung des Hofeinganges und entdeckten tatsächlich einen Keller – der Tunnelausgang im Osten schien gefunden (Sesta 2001: 33). Daraufhin inspizierten sie in den Tagen danach die Bernauer Straße, insbesondere den Bereich zwischen Brunnen- und Wolgaster Straße, nach guten Möglichkeiten für einen Tunneleingang im Westen (Sesta 2001: 34). Weitere drei Wochen später waren sie von dem Bulgaren zu seiner Geburtstagsparty eingeladen. Während Spina die Leute ablenkte, schlich sich Sesta zur Wohnungstür, wo ein Schlüsselbrett mit Schlüsseln hing. Er nahm sich einen Schlüssel vom Haken und suchte nach dem dazugehörigen Keller. Dieser lag zufällig im hinteren Bereich des Kellerraumes in Richtung der Grenze, was für ihre Tunnelplanung äußerst praktisch war. Sesta erstellte mithilfe von Knetmasse einen Abdruck, um den Schlüssel später nachmachen zu lassen und kehrte zurück zur Party. (Sesta 2001: 36)
Sesta und Spina kauften sich im Katasteramt des Bezirksamtes Wedding eine Karte, auf der sowohl die Bernauer als auch die Rheinsberger Straße noch verzeichnet waren. Eine erste grobe Messung ergab eine Tunnellänge von 165-170 m. Ein Tunnel dieser Länge schien unvorstellbar, dennoch ließen sich beide nicht davon abbringen. (Sesta 2001: 37) Sie suchten weiter nach einem möglichen Ausgang im Westen. Vor der Tankstelle an der Ecke Wolgaster Straße/ Bernauer Straße, in der Bernauer Straße 78 (Arnold/Kellerhoff 2011: 127), fanden sie schließlich eine Einfahrt zu einem Fabrikgebäude, das größtenteils vom Krieg zerstört war. Nur ein Teil des Erdgeschosses mit wenigen Mauerresten war noch erhalten, die allerdings die Einsicht in den Hof versperrten. Dort war eine Treppe, die zum Keller des ehemaligen Vorderhauses führte. Bis zur Sektorengrenze waren es zwar immer noch 30 Meter (mit darauffolgendem Todesstreifen), jedoch schien der Ort für eine Tunnelgrabung geeignet zu sein.
Mittlerweile hatte sich Sestas und Spinas Freund WOLFHARDT SCHRÖDTER den beiden angeschlossen. Mit ihm fuhr Spina in die Bernauerstraße zu dem Fabrikbesitzer Müller. Sie wollten unter dem Vorwand, dass sie als studentische Jazz-Band einen Proberaum suchten, den Keller erkunden und eventuell mieten. Müller vermutet allerdings eine Aktion gegen die Mauer und sprach dies auch offen aus. Da sein eigener Familienbetrieb im Osten aber enteignet wurde und er selber DDR-kritisch war, überließ er ihnen die Kellerräume ohne Miete inklusive Strom. Ein weiteres Zimmer über dem Keller stand ihnen zusätzlich zur Verfügung. In der Dokumentation „Der Tunnel“ hat Müller angeblich zu den Tunnelbauern gesagt „Benutzt den Keller gern, aber räumt nachher wieder auf!“ („Der Tunnel - Die Dokumentation“ ).
In den Semesterferien hatten Sesta und Spina gearbeitet und das Geld für den Tunnelbau zur Seite gelegt. Sie gingen außerdem von einem Semester Verlust für den Tunnelbau aus (Sesta 2001: 42). Nachdem sie eine grobe Materialliste erstellt hatten, stellten sie fest, dass sie insgesamt nur 1500 DM hatten, die für den Tunnelbau bei Weitem nicht reichten. Diese Probleme besprachen sie mit Peter, der grade seine Mutter zu Besuch hatte. Sie berichtete Sesta und Spina von einem Westberliner Konto, auf dem noch 3000 DM lagen. Eine Vollmacht von der Mutter reichte sogar aus, um Spina und Sesta das Geld auszuhändigen. Aber wie sollte die Vollmacht in den Westen gelangen? Die Mutter hatte gegen das Gesetz verstoßen, weil sie das Geld nicht in den Osten transferiert hatte, ihr drohte also eine Gefängnisstrafe. (Sesta 2001: 44-45) Sesta und Spina ließen sich dazu Folgendes einfallen:
„Aus einer Filterzigarette entfernte er zunächst den Tabak. Dann rollte er ein Stückchen sehr dünnes Papier von circa 5x8 cm zusammen und färbte die sichtbare Fläche mit Pastellstiften tabakfarben ein. Das eingefärbte Röllchen schob er vorsichtig in die leere Zigarettenhülle und stopfte sie sorgfältig wieder mit Tabak zu. Jetzt verglich er die präparierte Zigarette mit den anderen. Auf den ersten Blick war kein Unterschied zu den anderen Zigaretten feststellbar.“ (Sesta 2001: 46)
Damit fuhr Sesta zu Peter und seiner Mutter, die die Vollmacht auf den Zettel schrieb und kehrte ohne Probleme über den Checkpoint Charlie zurück (Sesta 2001: 47). Der Schmuggel war geglückt.
Mittlerweile, es war Ende März, waren die Vorbereitungen abgeschlossen („Der Tunnel - Die Dokumentation“) und es waren auch noch mehr Mitarbeiter hinzugekommen: JOACHIM RUDOLPH, auch „der Kleine“ genannt, und sein Mitbewohner, DER LANGE waren zwei befreundete Studenten und wohnten auch in der Hardenbergstraße. Der Lange kannte außerdem noch zwei weitere Männer, HASSO HERSCHEL und ULRICH PFEIFER, die an einem Tunnelbau interessiert waren (Sesta 2001: 57). Diese Gruppe, Sesta, Spina, Schrödter, Rudolph, der Lange, Herschel und Pfeifer stellte den Kern des Unternehmens dar. Alle außer Pfeifer waren beim ersten Spatenstich dabei („Unternehmen Reisebüro“).
Dafür wurden allerdings noch Materialien benötigt. Herschel berichtet, dass die ersten Geräte für den Tunnelbau, wie Schubkarre, Hacke und Spaten, vom Friedhof gestohlen wurden („Der Tunnel - Die Dokumentation“). Anfang Mai kauften sie von ihrem verdienten und dem Geld von Peters Mutter einen VW-Bus, erstes Bauholz, eine Seilwinde, eine Schubkarre, Schaufeln, Spaten, eine Handsäge und Material für die Beleuchtung (Sesta 2001: 49). Geplant war, dass die Tunnelhöhe einen Meter misst. Dies hieß eine Länge von 1,20m zwischen Tunneloberkante und Kellerboden. Dazu kam die Tiefe des Hausfundamentes von 70cm, vom Keller gerechnet, was eine Einstiegs-Grube von mindestens 2,20 m Tiefe erforderte, sprich eine Tunneltiefe von 4-6 Metern. Nach den ersten 50-60cm erfolgte der erste Rückschlag: der Boden bestand aus festem Lehm, was das Abtragen der Erde um einiges erschwerte.
Der Bau wird professionell
Dies schreckte die Tunnelbauer aber nicht ab. Teils über das Ost-West-Büro der CDU kamen weitere Helfer dazu („Unternehmen Reisebüro“) und die Kreativität der Tunnelbauer erleichterte die Arbeit:
„Die Tunnelbauer besaßen eine Seilwinde, die mit einer Handkurbel betrieben wurde. Das Ende des Seils war an einer Transportkarre befestigt. Diese wurde mit Hilfe der Seilwinde vom Tunnelende, wo gerade gegraben wurde, zur Grube gezogen. Mit einer zweiten Seilwinde wurde die Transportkarre nach oben gezogen, der Lehm in eine Schubkarre gekippt und in die leeren Kellerräume transportiert. […] ‚In den Lehmboden legten wir eine Art Führungsschiene. Diese schiene bestand aus einem Stahlprofil in L-Form. Die Spitze der Winkelprofile wurde so in die Erde eingelegt, dass eine Führungsschiene im Boden entstand. Rechts und links dieser Schiene wurden sorgfältig Holzbohle in den Tunnelboden verlegt. So war der Weg vorbereitet, um mit der Transportkarre den ausgehobenen Lehmboden aus dem Tunnel zu befördern und umgekehrt das zur Abstützung dienende Holzmaterial in den Tunnel zu bringen. Unter der Karre waren hinten zwei Gummiräder montiert; vorne brachten wir ein sich bewegliches Gummirad an, damit die Karre nicht aus der Führungsschiene herausspringen konnte.‘“ (Sesta 2001: 57-58).
Am Anfang wurde die Kurbel noch mit Hand betätigt, was aber schnell zu Blasen und schmerzenden Händen führte (Sesta 2001: 58). Ein Elektromotor wurde angeschafft und durch RAINER HAACK eine Konstruktion geschaffen, die den Wagen aus dem abschnittsweise beleuchteten Tunnel zog (Interview Rainer Haack). Zusammen mit Spina hatte Pfeifer für die Abstützung des Tunnels die Dreiecksform (siehe Foto) gewählt. So sparten sie Kanthölzer. Allerdings wurden dafür mehr Holzbohlen für die Verschalung benötigt und die Anbringung der Winkel war kompliziert, ergo zeitaufwendig.
Deshalb entschlossen sich die Tunnelbauer für ein Rechteckprofil mit einer Breite von 90cm (siehe Abbildung und Foto). An den Tunnelwänden standen in regelmäßigen Abständen runde Holzstempel, die zugeschnittene Kanthölzer trugen, auf denen wiederum 4cm dicke Bohlen für die Abstützung des Erdreiches lagen (Sesta 2001: 56). Wegen des harten Lehmbodens war keine Verschalung mehr nötig.
Anfangs gab es auch keine Probleme mit dem Holz, da eine Spende im Wert von 10 000 Mark vorlag (Arnold/Kellerhoff: 128). Ulrich sagt in der Dokumentation „Unternehmen Reisebüro“:
„Wir hatten am Anfang Glück, da war einer dabei, dessen Onkel in Westdeutschland einen Sägebetrieb hatte und den hat er eingeweiht von diesem Vorhaben ohne ihm Genaueres zu nennen wo. Und dieser Sägewerksbesitzer war von der Idee so begeistert, dass er also das Holz zur Verfügung gestellt hat. Das kam dann mit dem Lastwagen nach Berlin und damit hatten wir erst mal das Abstützmaterial.“ („Unternehmen Reisebüro“)
Jemand aus der Truppe entwickelte in der Anfangszeit eine ausgefeilte Grabtechnik: auf dem Rücken liegend konnte der Spaten mithilfe der Beinmuskulatur in den harten Lehm getrieben werden. War die Karre gefüllt, wurde ein altes Wehrmachtstelefon benutzt, um das Zeichen zum Ziehen zu geben. Nachdem die ersten 30-35m geschafft waren, sahen sich die Tunnelbauer aber mit einem weiteren Problem konfrontiert: der Sauerstoffknappheit.
Um dieses Problem zu lösen, wurden Ofenrohre gekauft. „Mit diesen Ofenrohren legten sie seitlich der Decke eine Frischluftleitung, indem sie die Rohre an den Enden ineinander steckten“ (Sesta 2001: 61). Die Verbindungsstellen dichteten sie mit Klebeband weiter ab. Spina zufolge haben die Bauer erst einen Staubsauger umgepolt. Als dieser nicht mehr ausreichte schlossen sie dann einen Kompressor an („Unternehmen Reisebüro“). RAINER HAACK verneint dies jedoch: er behauptet, die Belüftung selbst mithilfe eines Exhausters, sowie dessen Dämmung zur Geräuschmilderung, konstruiert zu haben (Interview Rainer Haack). So oder so – die Lüftung funktionierte und es konnte am Tunnelende ohne Beeinträchtigung weitergegraben werden. Doch die ständige Bedrohung, gefunden zu werden und die dazugehörige Anspannung waren belastend. Witze halfen, mit dieser extremen Situation einen Umgang zu finden:
„M: Der Winfried Schweitzer hat uns erzählt, dass sich jemand ein Spaß erlaubt hat und einen Cognac vorne rein...
Neumann: Jaja. (Lachen)
T: Als er da gebuddelt hat und dann kam da vorne durch das Belüftungsrohr Cognac. Also er meinte es war auch manchmal schon witzig dort zu buddeln.
Neumann: Manchmal auch ein schickes Parfüm... (Lachen) Da hat man dann Sehnsucht nach der Freundin gekriegt. Jaja“ (Interview mit Neumann)
Trotzdem ist die Arbeit so anstrengend, dass noch mehr Leute benötigt werden. Wieder ist der Lange Kontaktmann zu weiteren Freiwilligen: JOACHIM NEUMANN und OSKAR aus der Gruppe der WOLLANKSTRASSE stoßen zur Truppe hinzu. Insgesamt soll die Wollankgruppe „im Kern etwa sieben Leute“ (Detjen 2005: 30) bereitgestellt haben. Die Mitarbeitenden wurden je nach Möglichkeiten in Tages- und Nachtschichten von vier bis fünf Leuten eingeteilt: einer gräbt, einer zieht den Karren zum Schacht und zwei ziehen den Karren hoch (Arnold/Kellerhoff 2011: 128).
Anfang Juni erreichten die Tunnelbauer schließlich die Demarkationslinie. Aus Angst vor Entdeckung und bösen Überraschungen, zum Beispiel Quertunnel oder Richtmikrofone der Stasi, markieren sie die Grenze auch im Tunnel mit einem Schild mit der Aufschrift „You are leaving the American sector“ (siehe Foto). Neumann erzählt in einem Interview dazu:
„Ja das war insofern ein Scherz, also der der das Schild geschrieben hat, hat sich nichts dabei gedacht. Also wir waren ja oben in der Bernauer im Wedding und das is ja französischer Sektor. Und jetzt war dieser Tunnel 29, der ist ja nicht entdeckt worden, sondern den mussten wir ja aufgeben, weil da das Wasser eben drin war und dann dieses Foto erschien dann auch ein paar Tage später in der Presse und die Stasi hat dann eben im amerikanischen Sektor gesucht. So in Neukölln da unten. Die ham also völlig an der falschen Stelle gesucht und den Tunnel nicht gefunden und erst so nach 12 Tagen oder länger, als es irgendwo in der Straße ne Absenkung gab durch den Tunnel, oder es irgendwo in der Mauer einen Riss oder so gab, sind die erst drauf gekommen, haben dort auf gebuddelt und wussten dann erst wo der Tunnel überhaupt is. Das war also ne Irreführung mit diesem Schild, die wir gar nicht beabsichtigt haben.“ (Interview Neumann)
Ab der DDR-Grenze wurde der Tunnel Tag und Nacht bewacht. Außerdem wurden für jeden Samstag Besprechungen in einer Wohnung am Tiergarten von einem Tunnelbauer aus der Wollanktruppe anberaumt. (Sesta 2001: 66)
Finanzsorgen und die NBC
Ab Ende Mai ging das Geld der Tunnelbauer zur Neige. Zufällig sahen Sesta und Spina eine Anzeige in der Berliner Morgenpost über den Film „Tunnel 28 („Der Tunnel - Die Dokumentation“). Beide fuhren daraufhin zu dem Pressesprecher des Finanzprojekts, Franz Baake („Unternehmen Reisebüro“). Dieser zeigte sich begeistert, wollte aber eine Entscheidung nicht alleine, sondern mit seinem Freund, dem Politologen und Verwaltungsfachmann Friedrich/Fritjof Meyer fällen („Der Tunnel - Die Dokumentation“/„Unternehmen Reisebüro“). Meyer wiederum leitete den Verkauf an die NBC und damit Pete/Pears Anderton. Nach einer Tunnelbesichtigung mit Garry Stindt und einer Rücksprache mit seinem Vorgesetzten in New York willigte er ein, die Dreharbeiten zu übernehmen und einen Vertrag, in dem oberste Geheimhaltung versichert wurde, abzuschließen. Er wurde von Sesta, Spina und Schrödter unterschrieben, später wurde Herschel auch mit eingebunden (Arnold/Kellerhoff 2011: 124). Insgesamt bezahlte die NBC 50 000 DM für den Film. Für Material, Essen, Trinken und Rauchen während der Arbeit war damit gesorgt (Sesta 2001: 75).
Angeblich aus Angst vor Diskussionen in der Gruppe erzählten sie den übrigen Tunnelbauern nichts. Herschel aber, der mit zum Kern der Truppe gehörte, konnte dieser Plan nicht verschwiegen werden. Ihm wurde von dem Dreh erzählt und er sollte diese Information an Pfeifer weitergeben. Die Dreharbeiten fanden deshalb immer nur statt, wenn keine anderen Tunnelbauer dabei waren. Aus diesem Grund sind auf den berühmten Aufnahmen der Grabungen des „Tunnel 29“ nur Sesta, Spina, Herschel, Pfeifer und Schrödter zu sehen („Unternehmen Reisebüro“).
Der erste Wassereinbruch
Anfang Juli klingelte gegen 2 Uhr morgens das Telefon im Studentenhaus der Hardenbergstraße: 15 Meter hinter der Demarkationslinie stünde Wasser teilweise 10cm tief im Tunnel, anscheinend war ein Rohr geplatzt (Sesta 2001: 77). Über einen Bekannten eines Tunnelbauers, der bei der Feuerwehr war, wurden Schläuche geborgt, mit denen das Wasser durch eine Handpumpe in eine gusseiserne Abwasserleitung direkt neben dem Tunneleingang gepumpt wurde. Später wurde die Handpumpe durch eine Elektropumpe von der Feuerwehr ersetzt („Der Tunnel - Die Dokumentation“), aber trotzdem stieg das Wasser höher. Sesta, Spina und Pfeifer sahen keine andere Möglichkeit, als sich zur Bauaufsicht Wedding zu begeben. Dort forderten sie eine Unterredung mit dem Amtsleiter und äußerten ihren Verdacht, dass es in der Bernauer Straße auf östlicher Seite hinter der Mauer ein gebrochenes Rohr gäbe und fragten, ob die Hauptleitung auf dem Bürgersteig zum Osten abgestellt werden könnte. Dies wurde zugesichert und als kleine Reparatur vom Hauptrohr simuliert (Sesta 2001: 77-82).
Doch nur durch einen Tunnelbau konnten sie einen Wasserrohrbruch bemerkt haben. So informierte der Amtsleiter den Senat. Ein Sympathisieren mit der DDR war jedoch das letzte, was der Senat wollte und so deckte er das Vorhaben. In der Dokumentation „Der Tunnel“ heißt es, dass der Senat sowieso keine Wahl hatte, da er unter der Fuchtel der CIA stand. Einen Tag später erhielt Schrödter einen Anruf von einem Unbekannten und traf sich um 15 Uhr am Ernst-Reuter-Platz mit zwei Männern, die, wie sich später rausstellte, Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde waren und den Tunnelbauern Geheimhaltung und Unterstützung anboten. Außerdem wollten sie die Tunnelbauer überprüfen, um die Wahrscheinlichkeit eines Spitzels zu senken. Die Überprüfung verlief ohne Vorkommnisse (Sesta 2001: 83-86). Laut der Dokumentation „Unternehmen Reisebüro“ verlief diese Überprüfung sogar von der CIA, die das Unternehmen zwar nicht weiter unterstützte, wohl aber Stillschweigen bei Nachfragen der Polizei gewährleistete. Zusätzlich vermittelte der Verfassungsschutz zwischen Akteuren aussichtsreicher Fluchtprojekte. So kam der Kontakt zwischen der Gruppe des „Tunnel 29“, Harry Seidel und Dieter Thieme zustande („Unternehmen Reisebüro“, Detjen 2005: 130).
Am Tunnel mussten die Arbeiten eingestellt werden, da er mittlerweile ganz vollgelaufen war. Ungefähr eine Woche nach dem Besuch im Bezirksamt jedoch wurden zwei Arbeiter gesehen, die neben der Mauer in der Bernauer Straße eine Grube gruben und das Wasser abstellten (Sesta 2001: 86-87). Es dauerte zwei bis drei Wochen, bis das Wasser abgesickert und der Tunnel getrocknet war. Solange wurde der Tunnel Tag und Nacht beaufsichtigt (Sesta 2001: 87-88).
Während im eigenen Tunnel die Arbeiten ruhten, wurden die Tunnelbauer von der Wollanktruppe über einen bevorstehenden Durchbruch in der KIEFHOLZSTRASSE, die zwischen Neukölln und Treptow liegt, informiert. Joachim Rudolph und Hasso Herschel, wahrscheinlich aber auch Domenico Sesta und Luigi Spina (Sesta 2001: 99-107), unterstützten die Gruppe um Harry Seidel und Dieter Thieme auf den letzten Metern. Herschel und Rudolph machten den Durchbruch, bemerkten aber ungewöhnliche Bewegungen im Haus und zogen sich sofort zurück. Zum Glück, denn im nächsten Raum wartete die Stasi, die an diesem Tag mindestens 102 Menschen, vor allem Fluchtwillige, festnahm („Unternehmen Reisebüro“).
Mit der zunehmenden Gewalt an der Mauer stellte sich auch in der Gruppe die Frage nach Waffengebrauch. Der Verfassungsschutz teilte mit, er würde sogar Waffenbesitzt zur eigenen Verteidigung tolerieren. Insbesondere am Tag der Flucht überlegten die Tunnelbauer, Waffen mit sich zu führen. Deshalb fuhr Sesta nach Hamburg, weil es dort angeblich viele Schmuggelwaren gab. Über einige Umwege geriet Sesta an einen Waffenschmuggler, der sich belustigt zeigte, als Sesta seine Bestellung machte: an einer so kleinen Bestellung (zwei Pistolen und zwei Maschinenpistolen) war er anscheinend nicht gewöhnt. Ein Jagdgewehr, welches Mimmo in Hamburg legal kaufte, eine englische Maschinenpistole, von einem Studenten besorgt, und eine Pistole sollten schließlich ausreichen (Sesta 2001: 90-95).
Nachdem der Tunnel wieder trocken und begehbar war, fingen die Renovierungsarbeiten an: die Bohlen wurden wieder befestigt, das Lüftungsrohr wurde teilweise neu abgedichtet und ein Hohlraum, der sich durch das Wasser über dem Tunnel gebildet hatte, mit Lehm ausgefüllt. Insgesamt hatte der Wassereinbruch die Gruppe vier Wochen in ihrem Unternehmen gekostet. (Sesta 2001: 97-98)
Die misslungene Flucht an der Kiefholzstraße war ein herber Rückschlag für Peter. Hinzu kam, dass durch den Wassereinbruch der 13. August 1962 als Fluchtdatum nicht gehalten werden konnte. „Sie hatten nämlich geplant, den Durchbruch um den Jahrestag vorzunehmen. Das sollte ihr Antwort auf den Bau der menschenfeindlichen und immer noch unfassbaren Mauer sein.“ (Sesta 2001: 108). Neben Peter wurde der Fall des PETER FECHTERS zu einer zusätzlichen Motivation für die Tunnelbauer. Nach den Vorfällen an der Mauer hängte Rudolph zum zusätzlichen Ansporn ein Bild vom tödlich getroffenen Peter Fechter an die Tunnelwand. (Sesta 2001: 108-114).
Spitzel unter den Tunnelbauern?
An einem Abend hörten die Tunnelbauer, dass sich auf dem Fabrikgelände ein Mensch aufhielt. Sie hielten diesen Mann, CLAUS STÜRMER, für einen Spitzel, überwältigten ihn und hielten ihn gefesselt im Tunnel fest. Wenige Stunden später wurde er nach Tempelhof zur Polizei in die Abteilung Staatsschutz gebracht, wo er die ganze Nacht über vernommen wurde. Aus seiner Geschichte ergaben sich jedoch keine Widersprüche und so wurde er wieder freigelassen. Sofort lief er zurück zum Tunnel und versicherte alles zu machen, wenn er nur seine Familie über den Tunnel in den Westen holen könnte. Die immer noch skeptischen Tunnelbauer ließen ihn gewähren („Unternehmen Reisebüro“, Arnold/Kellerhoff 2011: 129).
Ellen Sesta berichtet in ihrem Buch unterdessen von zwei Unbekannten namens DIETER (höchstwahrscheinlich CLAUS STÜRMER) und ROLF. Ihr zufolge sahen die beiden auf dem Fabrikgelände das Licht aus dem Vorzimmer und hörten schwache Geräusche aus dem Keller. Sie überraschten die Tunnelbauer beim Graben, wurden aber sofort von OSKAR gestellt. Es stellte sich heraus, dass die beiden angeblich eine Fluchtmöglichkeit für ihre Angehörigen im Osten suchten. Gemeinsam einigte man sich darauf, Rolf und Dieter in wechselnden Schichten am Tunnel mitarbeiten zu lassen. Dennoch konnte das Sicherheitsrisiko nicht von der Hand gewiesen werden. Insbesondere Dieter wurde verdächtigt, ein Spitzel zu sein. Aber auch nach einem eigens durchgeführten Verhör und einer Überprüfung durch eine offizielle Stelle konnte nichts Negatives herausgefunden werden. Dieter betonte nur immer wieder, dass er seine schwangere Frau und sein Kind in den Westen holen möchte. (Sesta 2001: 115-123) Ellen Sesta zufolge stellte sich im Endeffekt Rolf als Spitzel heraus (siehe Beschreibung ROLF weiter unten).
Planänderung
Der eigentliche Plan der Tunnelbauer sah vor, den Tunnel in der Rheinsberger Straße beim dem bekannten Bulgaren im Keller enden zu lassen. Durch unterschiedliche Ereignisse sahen sich die Tunnelbauer aber genötigt, den Tunnelausgang im Osten sowie das Fluchtdatum vorzuverlegen.
Nach wie vor hatte der Kern der Truppe um Sesta, Spina, Herschel, Pfeifer und Schrödter Angst vor Verrat. Claus Stürmer, der für sie potenzielle Spitzel, wurde zwar weiter im Keller festgehalten, barg für die Bauer aber immer noch ein hohes Risiko. Hinzu kam, dass mittlerweile 41 Tunnelbauer, „durch Bekanntschaft oder Freundschaft miteinander verbunden (Sesta 2001: 73-74), an dem Tunnelprojekt arbeiteten und wahrscheinlich noch mehr davon wussten. Die Gefahr war groß, dass sie irgendwer irgendwo verriet. (Dokumentation „Unternehmen Reisebüro“, Sesta 2001: 156).
Außerdem berichten Zeitzeugen, dass auf Höhe der Schönholzer Straße wieder Wasser in den Tunnel sickerte. Die Rheinsberger Straße war aber zu weit weg, als dass der Tunnel in so kurzer Zeit fertig gestellt hätte werden können. Zusätzlich kam noch das Problem der Sandlagerung hinzu, da die Kellerräume in der Bernauerstraße schon sehr voll waren. („Unternehmen Reisebüro“, Arnold/Kellerhoff 2011: 129-130, Führung „Tour M – Mauerbrüche“) Für den erneuten Wasserrohbruch gibt Neumann als Grund folgendes an:
„Der erste Tunnel, der 29er Tunnel, der lag ja relativ flach, nur so vier fünf Meter unter der Straße, das heißt also, der Einstieg war auch relativ flach. Das hatte nun aber den Nachteil, dass die Wasserrohre kaputt gegangen sind durch die Auflockerungen“ (Interview Neumann)
Daraufhin nahm Pfeifer neue Messungen vor und stellte fest, dass die Tunnelbauer bereits die Schönholzer Straße 7 untergraben hätten. Ein Kurier, laut Ellen Sesta war dies Domenico Sesta (Sesta 2001: 156), fuhr in die DDR zur Schönholzer Straße und kundschaftete die Keller aus. Der Keller war geräumig und nur wenige Kohlevorräte waren eingelagert. Von einem Spielplatz in der Nähe des Hauses konnte man außerdem die Giebelwand sowie die zwei obersten Fenster des Hauses Wolgaster Straße/Ecke Bernauer Straße einsehen. Umgekehrt waren es möglich von den beiden Fenstern einen weiten Bereich der Schönholzer Straße sowie die Bewegung der Grenzposten an der Mauer zu beobachten. Nach Rücksprache mit Garry Stindt mietete die NBC eines der Zimmer im obersten Stockwerk für einen Monat. Für die anderen Tunnelbauer ging das normale Graben allerdings weiter, da sie nichts von diesem neuen Plan erfahren sollten. (Sesta 2001: 156-159) Nur die Tunnelbauer, die selbst Bekannte oder Verwandte in den Westen holen wollten, sollten von dem neuen Plan unterrichtet werden. Die Flüchtlinge wurden in Gruppen eingeteilt und sollten sich zu einer bestimmten Zeit an einem Ort einfinden, wo der Kurier ihnen das Zeichen zur Flucht gab. Der endgültige Fluchttag sollte der 14. September 1962 sein. (Sesta 2001: 161-168)
Stürmer wurde am Tag des Tunneldurchbruchs im Keller festgehalten und durfte seiner Familie erst nachdem alle Flüchtlinge im Westen angekommen waren Bescheid geben („Der Tunnel - Die Dokumentation“).
Der Kurier sollte am besten eine Kurierin mit Westdeutschem Pass sein, da Frauen am unauffälligsten waren. Nachdem die Schwester eines Tunnelbauers aufgrund von Krankheit abgesprungen war, wurde Ellen Sesta, die Verlobte von Domenico Sesta, auserkoren. Eigentlich wollte sie ihren 22. Geburtstag am 14. September mit ihrem Verlobten in Berlin feiern, so aber übernahm sie aber die Aufgabe des Kuriers. („Der Tunnel - Die Dokumentation“, „Unternehmen Reisebüro“)
14. September 1962 – der Tag der Flucht
Obwohl die Flüchtenden also durch Wasser und Schlamm kriechen mussten, wurde die Aktion weitergeführt. Nach der Erfahrung des ersten Wassereinbruches hofften die Tunnelbauer, dass es noch dauern würde, bevor der Tunnel unpassierbar sei (Sesta 2001: 224-225). Während des Durchbruchs war oberste Vorsicht geboten. Es mussten möglichst wenige Geräusche gemacht werden, weshalb die Lüftung bereits einen Tag vorher ausgestellt worden war. Hier erwiesen sich die zu viel gegrabenen Meter aber als willkommene Sauerstoffreserve und Abladeort für die Erde. (Sesta 2001: 224)
Am Vormittag des 14. Septembers erfolgte dann der Durchbruch mit einer Genauigkeit von 50cm (Interview Rainer Haack): Hasso Herschel stieß durch die Erde und wurde zuerst von einem Windzug, der anscheinend den Druck zwischen Tunnel und Keller ausglich, begrüßt. Darauf verhielt er sich vorerst ruhig und lauschte nach Geräuschen. Aber ein erneuter Adrenalinkick folgte: Wasser lief durch das kleine, bleistiftdicke Loch. Hatte die Stasi den Keller geflutet? Herschel schickte die anderen Tunnelbauer in den hinteren Teil des Tunnels. Schließlich verbreiterte er das Loch und es kam ihm nunmehr Sprühregen entgegen. Der Verursacher war ein kleines Loch in einem Wasserrohr, aus dem ein kleiner Strahl direkt in das erste Loch sprühte – die Tunnelarbeiter atmeten auf. („Unternehmen Reisebüro“, Führung „Tour M – Mauerbrüche“)
Daraufhin musste der Keller gesichert werden. Herschel stieg zusammen mit Spina und Rudolph aus dem Keller. Herschel sollte mit der Schulter die Holztür des Kellers aufstoßen und sich auf den Boden fallen lassen. In dem Fall, dass draußen Stasi-Mitarbeitende warteten und schossen, müssten die bewaffneten Rudolph und Spina ihnen zuvor kommen. (Führung „Tour M – Mauerbrüche“). Der Tunnel war aber nicht entdeckt oder verraten worden, sodass Rudolph aus dem Hause treten konnte, um die Hausnummer 7 zu bestätigen („Unternehmen Reisebüro“). Über das Wehrmachtstelefon hielten die Tunnelbauer im Osten Kontakt zu dem Tunneleingang im Westen. Die Personen dort, unter anderem Sesta, waren wiederum von der NBC mit Funkgeräten ausgestattet worden und wurden von den Mitarbeitenden auf dem Laufenden gehalten, die aus den angemieteten Räumen Bewegungen im Osten beobachteten. (Sesta 2001: 172)
Über diese obersten Fenster des Hauses Wolgaster Straße/ Ecke Bernauer Straße fand auch die Kommunikation mit der Kurierin statt: hing ein weißes Laken aus dem Fenster war der Tunnel geöffnet und konnte von den Flüchtlingen benutzt werden. Hing aber ein rotes Laken aus dem Fenster bestand unmittelbare Gefahr und die Kurierin sollte umgehend in den Westen zurückkehren (Sesta 2001: 172).
So warteten die Tunnelbauer auf ihre Flüchtlinge: „Hasso Herschel sicherte mit durchgeladener Pistole den Zugang zum Keller. Wegen der Morde an Jercha und Noffke waren die Fluchthelfer nun bewaffnet – auch Joachim Neumann.“ (Arnold/Kellerhoff 2011: 129). Zwei standen an der Kellertreppe (Hasso Herschel und Luigi Spina oder Joachim Rudolph), einer unten an der Kellertreppe (Joachim Neumann) und einer direkt neben dem Tunneleingang (Spina oder Rudolph) („Unternehmen Reisebüro“). Als Parole sollten sich die Flüchtlinge auf dem Hausflur über „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Eisenstein“ unterhalten, sowie die Tunnelbauer mit „Ihr fleißigen Handwerker“ begrüßen (Hasso Herschel in der Dokumentation „Der Tunnel“, „Unternehmen Reisebüro“).
Ellen Sesta zog sich für ihre Kurier-Tätigkeit möglichst unauffällig an und versteckte mit einem Kopftuch ihre markanten roten Haare. Zusätzlich zu ihrem Reisepass nahm sie ein Notizbuch inklusive verschlüsselter Angaben zu Treffpunkten und verstecktes Ost- und Westgeld mit (Sesta 2001: 195-196). Eine beträchtliche Summe von 800 DM West und ca. 1200 DM Ost sollte ihr im Notfall helfen, sich nach Warschau durchzuschlagen und sich dort in der Deutschen Botschaft zu melden. Anschließend hätte sie sich nach Jugoslawien begeben sollen um von dort in den Westen zu gelangen (Sesta 2001: 189-190).
Über die Grenze an der Friedrichstraße gelang Ellen ohne Probleme nach Ost-Berlin. Dort nahm sie sich am Metropol-Theater ein Taxi und fuhr zur Zionskirche, die in der Nähe der Mauer stand. Kurz nach 10 Uhr saß Ellen auf dem Spielplatz mit guter Sicht auf die besagte Giebelwand, als ein Fenster geöffnet wurde und ein weißes Bettlaken rausgehängt wurde (Sesta 2001: 199).
Daraufhin begab sich Ellen kurz vor 11 Uhr in die erste Kneipe in der Zionskirchstraße („Unternehmen Reisebüro“). Dort hielten sich Peter und seine Familie sowie Hassos Schwester mit ihrer Familie auf (Sesta 2001: 226). Das äußere Erkennungszeichen der Kurierin war die BZ am Abend, die Ellen unter dem Arm trug und von der nur die Abkürzungsbuchstaben zu lesen waren. Als zweites Erkennungszeichen sollte Ellen Streichhölzer kaufen. Nach diesen Zeichen verließ sie die Kneipe wieder, die Flüchtlinge liefen kurze Zeit später in einem Abstand von fünf Minuten in die Schönholzer Straße 7 (Sesta 2001: 200-202). Alle Flüchtlinge kamen gut durch den Tunnel, auch wenn das gute Dior-Kleid inklusive weißer Schuhe von Hassos Schwester völlig ruiniert waren. Die Flüchtlinge konnten sich anschließend in bereitgestellten Eimern und Schüsseln mit frischem Wasser waschen, bevor sie in ihre Unterkünfte kamen. Eine der Unterkünfte, in die auch Peters Familie kam, war die Wohnung von Tilly in der Ansbacher Straße. (Sesta 2001: 227-228) Sie war die Freundin von Orlando, einem der Tunnelbauer (Sesta 2001: 169), die zusammen mit ihren Mitbewohner_innen und Freund_innen die Flüchtlinge in ihrer Wohnung erst mal aufnahm und mit Kleidung und Essen versorgte (Sesta 2001: 228). Niemand wurde zum Notaufnahmelager Marienfelde gebracht, damit Spitzel, die sich in Marienfelde befanden, nichts von dem Tunnel erfuhren und er so lange wie möglich benutzt werden konnte (Sesta 2001: 242).
Nach der ersten Flüchtlingsgruppe überzeugte sich Ellen auf dem Spielplatz, dass das weiße Tuch immer noch hing. Anschließend aß sie in einer Kneipe zu Mittag, wo sie auf der Toilette die verschlüsselten Angaben in ihrem Notizbuch vernichtete. Gegen 14 Uhr ging sie in die zweite Kneipe in der Nähe der Kastanienallee. Dort war das Erkennungszeichen, dass Ellen ein Glas Mineralwasser kaufte und trank. Die letzte Flüchtlingsgruppe sollte gegen 15 Uhr in einer Kneipe, wieder in der Nähe der Kastanienallee, benachrichtigt werden. Das Zeichen hierfür war, das Ellen Kaffee bestellen sollte, den es in einer kleinen Kneipe in der DDR natürlich nicht gab. Dies wurde bei der sonst so sorgsam durchdachten Fluchtaktion glatt vergessen. Ellen reagierte aber schnell: nachdem sie so oft wie möglich das Wort „Kaffee“ benutzt hatte, bestellte sie schließlich einen Cognac und trank ihn in einem Zuge aus. Anschließend machte sie sich auf dem Weg zur Friedrichstraße, um in den Westen zurückzukehren. Auf der Fahrt im Taxi fiel ihr das versteckte Geld in ihrer Handtasche ein. Bei einer Leibesvisitation wäre sie dafür verhaftet worden. Leichtfertig drückte sie dem Taxifahrer das gesamte Ost-Geld in die Hand, wickelte die 300 Westmark in ein Taschentuch und warf sie in einen gusseisernen Regengulli. Am Grenzübergang wurde sie wirklich einer Leibesvisitation unterzogen, die aber keine Spuren und Hinweise auf ihre Funktion fanden. (Sesta 2001: 205-221)
Nachdem die letzte Flüchtlingsgruppe im Westen angekommen war und auch genug Zeit vergangen war, sodass die Kurierin wieder im Westen sei, wurde Stürmer erlaubt seiner Familie Bescheid zu geben. Eine Kurierin benachrichtigt seine Frau, indem sie ihr ein Foto ihrer Tochter Kerstin auf den Tisch legte. Auf dem Foto hatte Stürmer quer „Halt die Ohren steif“ geschrieben. Dies war das Zeichen für sie zur Flucht. Eine andere Frau, die mit ihr im Gefängnis gesessen hatte und in der gleichen Situation war, kam mit ihr mit. Doch unglücklicherweise war an dem Tag eine Straßenbahn entgleist, sodass sie 15 Stationen mit Kinderwagen laufen mussten. Währenddessen stieg das Wasser im Tunnel. Statt 17 Uhr erreichten sie um 20.30 Uhr die Schönholzer Straße – das Wasser stand bereits 40cm tief.
Als sie sich in die Nähe der Schönholzer Straße begab, beschrieb Domenico Sesta die Situation: „‘Wie von Sinnen sprang er plötzlich in den Tunnelausgang hinein und nahm von einem Fluchthelfer sein Kind, das dieser gerade von einem anderen Helfer gereicht bekam, in die Arme. Nun endlich konnte er seinen neugeborenen Sohn zum ersten Mal sehen und in den Armen halten. Dieter stammelte immer wieder völlig aufgelöst und überwältigt: ‘Mein Junge, mein Junge.‘ Freudentränen liefen ihm über das Gesicht. Er schluchzte laut. […] Dieser Mann konnte unmöglich ein Spitzel gewesen sein.‘“ (Sesta 2001: 231). Stürmer selbst sagt, dass es ein sehr bewegender Moment war, als sich die anderen Tunnelbauer auf ihn stürzten, diesmal aus Freude und mit der Gewissheit, dass er kein Spitzel sei („Der Tunnel“).
Am Abend stellte sich heraus, dass der Rohrbruch in den Kellern der Schönholzer Straße 7 passiert war und damit außerhalb des Bereiches der Bauaufsicht Wedding war (Sesta 2001: 239). Ob der Tunnel am nächsten Tag noch passierbar wäre, wollten sie am nächsten Tag entscheiden. Als sie wiederkehrten war der Wasserstand jedoch viel zu hoch. Trotzdem tauchte Neumann mit einem Freund in Taucheranzügen noch einmal durch den Tunnel, um Freunde zu holen. Die waren aber alle schwimmen, sodass nur zwei von ihnen mithilfe von Neumann durch den Tunnel geführt werden konnten (Führung „Tour M – Mauerbrüche“, Arnold/Kellerhoff 2011: 129-130). Anschließend meldeten sie den Tunnel dem Sender Freies Berlin und dem RIAS, damit Menschen, die den Tunnel entdecken, sich nicht unwissend in Lebensgefahr bringen (Sesta 2001: 245). Dank des vielen Film-und Bildmaterials wurden ausführliche Zeitungsartikel mit Bildern zur Flucht veröffentlicht, zum Beispiel in der
BILD
Laut Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff berichteten die Zeitschriften
Welt, Tagesspiegel und Süddeutsche Zeitung von 59 Flüchtlingen. Dies diente allerdings lediglich der Tarnung: die GIRMANN-TRUPPE schleuste mithilfe von Autos Ost-Berliner_innen über den Checkpoint Charlie und wollten diesen Fluchtweg so lange wie möglich offen halten. Deshalb gaben die Flüchtlinge im spitzeldurchsetzten Notauffanglager Marienfelde den Tunnel 29 als Fluchtweg an. Mit den Tunnelbauern hatte DIETER THIEME diese Tarnung vorher besprochen. (Arnold/Kellerhoff 2011: 123)
Obwohl die Stasi verzweifelt nach dem bekannten Tunnel 29 suchte, fand sie ihn erst viel später: „Die Stasi erfuhr erst aus westlichen Presseberichten von der Massenflucht und fand den Stollen elf Tage später – weil im Hinterhof des Hauses Schönholzer Straße 17 im Sperrgebiet der Boden einbrach.“ (Arnold/Kellerhoff 2011: 130).
Die NBC und der Streit danach
Die Flüchtlinge und die anderen Tunnelbauer waren am Tag der Flucht überrascht von den vielen Kameras und Scheinwerfern, die plötzlich um sie herum standen. Bis dato war mit Herschel nur abgemacht worden, dass er insgesamt 2000 DM erhalten sollte, 1000 DM vor und nach der Grabung. Nach der Tunnelöffnung erfuhr er aber davon, dass die NBC die Fernsehrechte in Deutschland und Italien, sowie die Rechte an stehenden Bildern weltweit bekommen sollte. Auch der Stern kaufte die deutschen Rechte für Bilder (Arnold/Kellerhoff 2011: 124). Daraufhin forderte er den NBC-Vertrag mit der Drohung, dass sonst alle Bilder von ihm du seiner Schwester gestrichen werden müssen. Schließlich legte ihm die NBC den Vertrag vor, den Herschel dann auch selbst unterzeichnete. (Detjen 2005: 132)
Mit dem Filmen der Flucht und dem damit einhergehenden Verkauf kam der Verdacht der Bereicherung bei Fluchthilfe auf. Bei den Tunnelgräbern des Tunnel 29 führte dies zu einem solchen Zwist, dass sich 17 der Mitarbeiter öffentlich von Herschel, Sesta und Spina distanzierten (Detjen 2005: 132). In Zeitungen wie der Spiegel oder der Wiener Kurier wurde über den Streit berichtet und über die Moral entgeltlicher Hilfe diskutiert (Arnold/Kellerhoff 2011: 123). „Nicht nur das kommerzielle Moment, sondern auch die Überrumpelung der Flüchtlinge durch die Kameras im gleißenden Scheinwerferlicht, die mediale Verwertung der Emotionalität und Intimität des Moments ihrer Flucht sowie die nicht auszuschließende konspirativen Risiken schien machen als Preis, der für die Finanzierung des „Tunnel 29“ gezahlt worden war, zu hoch.“ (Detjen 2005: 132-133). Herschel sah die Sache nicht so eng: „‘Die richtigen ernsthaften Leute, die mitgearbeitet haben, der Kleine [Joachim Rudolph], der Joachim Neumann, der Uli Pfeifer, die hat das nicht interessiert. Denen ging es absolut nur um die Sache, und da das nun mal gelaufen war und nicht mehr aufzuhalten war haben die hinterher auch kein großes Theater gemacht. Es gab allerdings Diskussionen.‘“ (Hasso Herschel in Arnold/Kellerhoff 2011: 125)
Die NBC kündigte an, eine Dokumentation über den Tunnel 29 am 31. Oktober 1962 im Fernsehen auszustrahlen. Dies wurde von der Öffentlichkeit kritisiert: aus Angst vor dem sowjetischen Geheimdienst fürchteten viele Repressionen gegenüber Flüchtlingen oder Tunnelbauern. Auch der West-Berliner Innensenator Heinrich Albertz kritisierte das Vorhaben. Schließlich vertagte die NBC die Ausstrahlung auf den 10. Dezember 1962 und machte die Gesichter der Tunnelbauer, die nicht explizit dagegen waren, unkenntlich. (Arnold/Kellerhoff 2011: 125-126)
Mitarbeitende
DOMENICO SESTA (MIMMO): verbrachte zusammen mit Spina seine Jugend bis zum Abitur in Gorizia/Italien. Er wollte Bauingenieur werden und fing nach seiner Praktikantenzeit in Düsseldorf 1961 an der Technischen Universität sein Studium an. Zuerst wohnte er mit Spina in einem Zimmer in der Wilmersdorfer Straße, später dann im Studentenwohnheim in der Hardenbergstraße. (Sesta 2001: 13) Er war für die Planung des Tunnels zuständig und zog sich nach dem Tunnel 29 aus der Fluchthilfe zurück („Der Tunnel - Die Dokumentation“). 1963 heiratete er Ellen Sesta (Sesta 2001: 247).
LUIGI SPINA (GIGI): verbrachte zusammen mit Sesta seine Jugend bis zum Abitur in Gorizia/Italien. Nach seinem Militärdienst bewarb er sich an der Hochschule für Bildende Künste um Grafik zu studieren. Dort zog er zusammen mit Sesta von der Wilmersdorfer in die Hardenbergstraße (Sesta 2001: 11/13). Er war der Kopf des Unternehmens und zog sich nach dem Tunnel 29 aus der Fluchthilfe zurück („Der Tunnel - Die Dokumentation“).
WOLFHARDT (WOLF) SCHRÖDTER: war ein Freund aus Studentenhaus Hardenbergstraße. Er studierte Maschinenbau und bewohnte mit einem Physiker das Nachbarzimmer von Sesta und Spina. „Wolf war ein netter Kerl. Er war so groß wie Gigi, schlank, hatte blondes, aber ziemlich dünnes Haar und schon Geheimratsecken. Und er lachte gern, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er war sehr aufgeschlossen, und wenn er erst einmal etwas anpackte, engagierte er sich voll.“ (Sesta 2001: 39)
JOACHIM RUDOLPH (DER KLEINE): floh noch vor dem Mauerbau in den Westen und studierte an der Technischen Universität Berlin Elektrotechnik. Er war zur Zeit des „Tunnel 29“ 21 Jahre alt und wohnte mit dem „Langen“ in einem Zimmer in der Hardenbergstraße. „Immer wieder, und dies sehr sachlich, hatte er seine Abneigung und seine zunehmende Wut gegenüber dem kommunistischen Regime in der DDR zum Ausdruck gebracht.“ (Sesta 2001: 53). Seinen Spitznamen erhielt er von seinem Freund „der Lange“: Zu Kindertagen war „der Lange“ um einiges größer gewesen als „der Kleine“ (Sesta 2001: 53). „Der ‚Kleine‘ erwies sich als einer der besten Helfer. Er schuftete mehr als ein Profi und konnte alle notwendigen elektrischen Arbeiten im Tunnel ausführen.“ (Sesta 2001: 54).
Weitere Informationen zu Joachim Rudolph:
http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/joachim-rudolph-646.html
LANGE: floh auch vor dem Mauerbau aus dem Osten und studierte an der Freien Universität Berlin Germanistik und Geographie. Er war Zimmergenosse und Freund von Rudolph und wurde als „Frohnatur“ bezeichnet (Sesta 2001: 54).
HASSO HERSCHEL: gelang auch über den „Langen“ an den „Tunnel 29“. Nach einer viereinhalb jährigen Gefängnishaft floh er im Alter von 24 Jahren im Dezember 1962 mit einem falschen Pass in den Westen („Der Tunnel - Die Dokumentation“, Detjen 2005: 30). Er studierte an der Freien Universität Berlin Politologie. Bezogen auf den Tunnelbau war er vor allem für die Koordination zuständig („Der Tunnel - Die Dokumentation“): „Hasso Herschel, der neben dem Graben vor allem die logistisch aufwendige Organisation der Benachrichtigung der Flüchtlinge, mit Parolen, Treffpunkten, Erkennungs- und Warnzeichen etc. leistete, wurde im Laufe der Arbeiten zu einer gleichberechtigten Führungsfigur neben den Italienern. Er hatte sich geschworen, sich nicht mehr zu rasieren, bis seine Schwester mit ihrer Familie im Westen sei; der lange schwarze Bart, der seine auffällige Erscheinung zierte, wurde für zahlreiche Flüchtlinge zu einem Markenzeichen.“ (Detjen 2005: 131).
Herschel engagierte sich nach dem „Tunnel 29“ viele Jahre bei kommerziellen Fluchthilfen und bot somit eine Möglichkeit, wie sich Fluchthelfende finanzieren konnten. (Detjen 2005: 133). Bis zur Einführung der Ausreiseanträge 1972 half er mit ausgeklügelten Ideen über 1000 Menschen in den Westen. Adressen und Namen von Kurieren und Fluchtwilligen verkaufte er schließlich an seinen Cousin und einen Freund, die in der Fluchthilfe weiter machen wollten. Von dem Geld kaufte er sich eine Kneipe. (Führung „Tour M – Mauerbrüche“)
Weitere Informationen zu Hasso Herschel:
http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/hasso-herschel-808.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Hasso_Herschel
http://www.spiegel.de/sptv/special/a-113392.html
OSKAR (Wollankstraße): wurde von dem „Langen“ eingeführt, wobei Oskar nicht sein echter Name war. Er stammte aus einer gutbürgerlichen Familie in Westdeutschland und studierte an der Freien Universität Berlin Sozialwissenschaften an der FU. „Oskar war der Intellektuelle in der Truppe. Er war mittelgroß, sehr schlank und im Übrigen ein sehr ruhiger und ausgeglichener Mensch.“. Er half aus politischen Motiven mit. (Sesta 2001: 64)
JOCHEN/JOACHIM/ACHIM NEUMANN (Wollankstraße): war selbst Flüchtling der GIRRMANN-GRUPPE und suchte für seine Freundin Christa (Arnold/Kellerhoff 2011: 128) einen Fluchtweg, die jedoch am Fluchttag im Urlaub war und nicht benachrichtigt werden konnte. Er war an vielen Tunnelprojekten beteiligt (Detjen 2005: 130) und machte zusammen mit Ulli die Vermessung (Arnold/Kellerhoff 2011: 127-128). Auch er wurde von dem „Langen“ eingeführt und studierte an der Technischen Universität Berlin Bauingenieurswesen (Sesta 64).
Weitere Informationen zu Joachim Neumann:
http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/joachim-neumann-810.html
Interview der Gruppe „Friedhof“
CLAUS STÜRMER/DIETER: war Werkzeugmacher und lebte mit seiner Familie in Berlin-Friedrichshain, wollte aber in die Bundesrepublik flüchten. Unmittelbar nach dem Mauerbau stellte er an einer Stelle fest, dass durch die Bewegung der Grenzpatrouillen ein Zeitfenster ohne Bewachung entstand. In diesem Zeitfenster konnten Menschen von Ost nach West fliehen, wenn jemand im Westen den Zaun zur gleichen Zeit durchschnitt. Stürmer wollte mit seiner Frau zusammen fliehen. Ihm gelang die Flucht, aber seine Frau war mit Kind zu langsam gewesen. Als Stürmer den Westen erreichte, waren bereits Schüsse gefallen und seine Frau festgenommen. Aufgrund ihrer Schwangerschaft wurde sie zu zehn Monaten Haft verurteilt, aber vorzeitig Ende Januar 1962 entlassen. Ihr Kind wurde zu der Zeit in ein Kinderheim in Friedrichshain untergebracht („Der Tunnel – die Dokumentation“). Eine Flucht mit einem Säugling und einem Kleinkind kam dann aber nur noch durch einen Tunnel in Frage. (Sesta 2001: 123-126, „Der Tunnel – die Dokumentation“)
ROLF: wird ausschließlich von Ellen Sesta erwähnt. Nach ihrem Bericht zufolge war er ein Speditionskaufmann aus der Nähe von Hannover. Während eines Kurzurlaubes in Berlin lernte er Karin kennen, eine junge Frau aus Pankow und die beiden wurden ein Paar. Nach dem Mauerbau besuchte er Karin oft in Pankow, auf Dauer sollte Karin aber in den Westen kommen, damit beide ihre gemeinsame Zukunft antreten können. Ein Nachbar, überzeugtes SED-Mitglied, reichte regelmäßig Berichte über die fortdauernden Besuche von Rolf an den Dienstleiter der Volkspolizei Pankow weiter. Diese Berichte gelangten in das Ministerium für Staatssicherheit und auf Befehl des Oberst der Staatssicherheit wurden Rolf und Karin observiert. Ende 1962 wurde Rolf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der Stasi zum Oberst gebracht. Dort wurde von ihm verlangt sich als Spitzel zu verpflichten, der in Fluchthelferkreisen spionieren sollte. Dafür würde seine Freundin Karin nach Westdeutschland kommen. Zuerst lehnte Rolf ab, nach einer Woche in einem der berühmt-berüchtigten Stasi-Gefängnisse und Drohungen seitens der Stasi gegen Karin stimmte er allerdings zu. Er wurde in zwei Fluchthelfergruppen eingeschleust, nachdem die Informationen aber nicht genügend waren für die Stasi wurde er angehalten, neue Kontakte zu knüpfen.
STÜRMERS/DIETERS Fall war zu dieser Zeit bei der Stasi bekannt und es wurde vermutet, dass er eine Flucht für seine Frau plant. Aufgrund dessen wurde Rolf über einen Bekannten bei Dieter eingeschleust. Der fand wiederum in der Bernauer Straße eine Bäckerei, die zu vermieten war. Unter dem Vorwand, dort eine Imbissstube eröffnen zu wollen, mietete er die Räume und machte sich mit Rolf, den er davor kennengelernt hatte, und zwei weiteren Männern an die Arbeit, einen Tunnel in den Osten zu graben. Allerdings waren die Arbeit wegen des Lehmbodens und der Abtransport der Erde sehr schwierig. Er gab den Tunnel auch wegen Geldnot auf und suchte mit Rolf an der Bernauer Straße nach neuen Möglichkeiten. (Sesta 2001: 150-155) Den ersten Tunnel, den Dieter gräbt, verrät Rolf an die Stasi, weil er ihn eh für aussichtslos hält. (Sesta 2001: 126-154)
Ausblick
Die Bernauer Straße war in der Zeit zwischen 1962 und 1963 Ort vieler Tunnelbauten. In der Bernauer Straße 87 wurde in einer Bäckerei ein Tunnel angefangen, den Ellen Sesta eventuell meinte (erster Grabungsversuch von „Dieter“?). Eine weitere Grabung soll auch aus demselben Keller des Fabrikgebäudes geführt haben, wurde aber abgebrochen, denn kurze Zeit später hatte die Stasi ihre Grenzen auch unterirdisch mit Gegentunneln und Mikrofonen abgesichert. Heute erinnern in der Bernauer Straße noch Metallplatten auf der Oberfläche an verschiedene Tunnel, zum „Tunnel 29“ gibt es eine Gedenktafel an der Bernauer Straße und eine weitere Gedenktafel an der Schönholzer Straße 6. Im September 2000 ließ die Redaktion vom Spiegel-TV einen Teil des noch intakten Tunnels wieder freilegen (Sesta 2001: 250, „Unternehmen Reisebüro“). Der Vorsitzende des Vereins Berliner Unterwelten e.V. sprach sich 2010 für eine Teil-Freilegung aus, mit dem Besucher_innen ermöglicht werden soll, durch eine Glasscheibe oder Video-, bzw. Spiegelsysteme in den Tunnel hineinblicken zu können. Eine genauere Planung steht bereits, allerdings für den zweiten Tunnel von Hasso Herschel, der in die Brunnenstraße 142 geht. Dazu wurde an der Brunnenstraße bereits das Gewölbe in der Nummer 141 von Schutt befreit. Ein eigens gegrabener Tunnel soll dann eine Besichtigung ermöglichen (Führung „Tour M – Mauerbrüche“). Denn die Tunnel von damals ernten auch heute noch Bewunderung und Achtung. Dieser Wille und dieses Durchhaltevermögen, sich gegen ein menschenverachtendes Bauwerk zur Wehr zu setzen und so für mehr Gerechtigkeit zu sorgen hat mich während meiner Recherche tief beeindruckt.
Literaturangaben
Buchquellen:
Arnold, Dietmar/Kellerhoff, Sven Felix (2011): Die Fluchttunnel von Berlin. Ullstein Buchverlage, Berlin. 122 ff.
Detjen, Marion (2005): Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989. Siedler: München. 130 ff.
Sesta, Ellen (2001): Der Tunnel in die Freiheit. Berlin, Bernauer Straße. Econ Ullstein List Verlag: Berlin.
Internetquellen:
http://berliner-unterwelten.de/files/bild-zeitungsartikel.jpg, letzter Zugriff am 27.07.2012
http://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/joachim-rudolph-646.html, letzter Zugriff am 27.07.2012
http://www.berliner-zeitung.de/newsticker/der-verein-berliner-unterwelten-will-reste-des--tunnels-29--an-der-bernauer-strasse-freilegen-fluchttunnel-als-touristenattraktion,10917074,10734382.html, letzter Zugriff am 27.07.2012
http://www.spiegel.de/sptv/special/a-113392.html, letzter Zugriff am 27.07.2012
https://de.wikipedia.org/wiki/Tunnel_29, letzter Zugriff am 27.07.2012
Interview mit Rainer Haack:
Teil 1:
https://www.youtube.com/watch?v=WxTzCnDOtGs, letzter Zugriff am 27.07.2012
Teil 2:
https://www.youtube.com/watch?NR=1&v=K7cpi4azef4&feature=endscreen, letzter Zugriff am 27.07.2012
Teil 3:
https://www.youtube.com/watch?v=ss4uLSn26p0&feature=relmfu, letzter Zugriff am 27.07.2012
Rbb aktuell, 13. August 2010:
https://www.youtube.com/watch?v=hMqg5D7Gnk8&feature=related, letzter Zugriff am 27.07.2012
Filme:
„Unternehmen Reisebüro“ (Dokumentation, Deutschland/2001)
„Der Tunnel - Die Dokumentation“ (Deutschland/04.08.2003)
Sonstige:
Persönliche Korrespondenz während der Führung „Tour M – Mauerbrüche“ der Berliner Unterwelten mit Hasso Herschel, 28. Juli 2012 in Berlin
Interview mit Joachim Neumann, geführt von Christina Koch, Wiebke Zeil und Markus Köhler am 23. Mai 2012
Text: Marie-Kathrin Siemer