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Portrait Joachim Neumann


1939 wurde Joachim Neumann in Berlin geboren, wuchs dort auf und ging bis zu seinem Abitur im Jahre 1957 in Oberschöneweide, ehemalig Ostberlin, zur Schule. In Cottbus begann er dann mit dem Studium des Bauingenieurswesens, acht Semester lang bis 1961, als er sich endgültig entschloss, nach Westberlin zu flüchten. Als Tunnelbauer war er insgesamt an sechs Tunneln beteiligt: Tunnel 29 und der verratene Tunnel zur Brunnenstraße, gemeinsam mit der Gruppe um Hasso Herschel; ein Tunnel in der Kiefholzstraße, der auf Initiative von Fritz Wagner begonnen wurde und letztlich scheiterte; ein Tunnel von der Eberswalder Straße hin zur Kopenhagener Straße; gemeinsam mit der Gruppe Fuchs; der so genannte Kohlenplatztunnel und Tunnel 57.

Der wachsende Gedanke zu fliehen


Einer der Gründen, welche ihn letztlich zu seiner Flucht bewogen haben, ist die nochmals verstärkte Indoktrination an den Hochschulen nach Beginn des Mauerbaus. Mit dem System der DDR war Joachim Neumann von Anfang an nicht einverstanden, was, wie er sagt, wohl auch durch sein Elternhaus bedingt war, doch trotz der herrschenden Staatspropaganda war es vor dem Mauerbau am 13. August 1961 noch möglich, sich relativ erfolgreich „zu drücken“. So war er zum Beispiel in den Semesterferien, in denen die vierwöchigen Kurse der Nationalen Volksarmee zum Alltag der Studierenden an sozialistischen Hochschulen gehörten, zweimal krank, was, wie Neumann erzählt, erstaunlicher Weise scheinbar niemanden interessierte und so folgenlos für ihn blieb.
Mit beginnendem Mauerbau wehte jedoch ein anderer Wind. Als im September 1961 das Semester wieder begann, war eine der ersten Amtshandlungen des Sekretärs der Hochschule, so erinnert sich Neumann, die Einberufung einer Versammlung in welcher sinngemäß die Worte „Jungs ihr wisst, dass die Grenze in Berlin dicht ist und wer jetzt nicht spurt, der fliegt gnadenlos von der Uni“ fielen. Dies, so Neumann, war der Punkt, an welchem er ernstlich begann darüber nachzudenken, was er nun mache.
Letztlich war es aber die Verhaftung seines Freunde, die für Neumann das Fass zum Überlaufen brachte. Den Sommer 1961 verbrachte eine Gruppe von 20 bis 25 Freunden, unter ihnen Joachim Neumann und einer seiner Schulfreunde, an der Ostsee, fern von Berlin und den Vorgängen dort. Als besagter Schulfreund nach zwei Tagen, die er im Nachbarort bei Freunden verbringen wollte, nicht wieder auftauchte wuchsen Verwunderung und Besorgnis. Als man sich dort nach dem Verbleiben des Freundes erkundigte, so erzählt Neumann, erfuhr man, dass eine Gruppe junger Leute im Bierzelt Rock 'n' Roll Musik gehört habe, in der DDR als westlich, dekadent verschrien und verboten. Nach mehrmaliger Ermahnung rief dann der Wirt des Bierzeltes die Polizei, welche die Personalausweise der Musikhörenden einkassierte. Dies führte zu Protest unter den Beschuldigten, andere Anwesende im Bierzelt, so auch der Schulfreund, solidarisierten sich mit ihnen; die Polizei griff wahllos Menschen aus der Menge und nahm sie mit auf das Revier. Unter ihnen der Freund von Joachim Neumann. Was diesem zum Verhängnis wurde, war die schlichte Tatsache, dass er als DDR-Bürger nach wie vor in West-Berlin studierte und so von den Polizisten als Agent und Provokateur erachtet und als Anstifter der Unruhe benannt wurde. All das wussten Neumann und seine Freunde nicht, bis sie Ende August zurück nach Berlin kamen. Von der Mutter des Schulfreundes erfuhren sie, dass er in Rostock in Untersuchungshaft sitze und mit fünf Jahren Gefängnis zu rechnen habe. Schockiert und naiv wie sie waren, schrieben die Freunde einen Brief an die Staatsanwaltschaft, welcher zum Ausdruck bringen sollte, dass der Inhaftierte doch ein im Grunde anständiger Mensch ist und sammelten Unterschriften. Dieser schlichte Versuch, einem Freund zu helfen, wurde in den Augen der DDR als Staatsfeindlicher Akt gesehen, Neumann und Weitere eine Nacht lang verhört. „Jemand hat einmal gesagt, wenn man die Qualität eines Staates beurteilen will, muss man sich seine Gefängnisse von innen anschauen“, sagt Neumann heute. „Die eine Nacht hat mir schon gereicht.“
Noch bevor der Brief hätte abgeschickt werden können, hatte der Prozess bereits stattgefunden. Der Schulfreund von Joachim Neumann zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil, erzählt Neumann, ließ ihn zunehmend hinterfragen, was das für ein Staat sei, in dem er lebe.

Mit falschem Pass nach Westberlin


Letztlich zur Flucht entschieden hatte er sich dann im Oktober 1961, zwei Monate nach Mauerbau. Entgegen der anfänglichen Annahme, dass es unmöglich sei, eine Stadt wie Berlin vollkommen abzuschotten, war das Gefühl eingesperrt zu sein nun zur Realität geworden. Mit der Familie hatte er seine Pläne besprochen. Die Eltern konnten ihren Sohn verstehen, wollten selbst jedoch nicht noch einmal ihr Leben vollkommen von Neuem beginnen. Neumanns Schwester teilte die Pläne des Bruders, auch sie sah keine Zukunft in der DDR. Die Entscheidung zur Flucht fiel Neumann in dem Wissen, dass er die Eltern vielleicht nie wieder sehen würde. Doch 1967 beschlossen auch seine Eltern, inzwischen Rentner, dem Leben in der DDR den Rücken zu kehren und siedelten in den Westen über.
Im Oktober war es schließlich der Zufall, welcher Joachim Neumann zu Hilfe kam. Ein Freund von ihm, der in Ostberlin wohnte und bis zum Mauerbau an der FU studierte, erzählte von einer Gruppe Studierender, die mittels falscher Pässe in Ost-Berlin wohnende Kommilitonen in den Westen holten. Diese Gruppe bestand aus den Personen Girrmann, Thieme, Köhler und wurde später durch den SPIEGEL als „Unternehmen Reisebüro“ bekannt. Sechs bis sieben Wochen musste er warten, dann am 21. Dezember 1961 erhielt Neumann einen Schweizer Reisepass von einem Studenten, der sagte, er könne noch am selben Abend in den Westen fliehen. Der einzige Haken an der Sache: zwar sah ihm der Passbesitzer sehr ähnlich, doch war dieser blond Neumann jedoch schwarzhaarig.
Nach dem der eigene Versuch des Blondierens gescheitert war, fuhr er zu einer befreundeten Friseurin, welche ihn in den Mann auf dem Passbild verwandelte. „Sicher hat sie sich ihren Teil dabei gedacht“, sagt Neumann. „Damals war Flucht Tagesgespräch. In Ostberlin kannte jeder jemanden, der geflohen ist und in Westberlin jemanden der rüber gekommen ist. Das war nichts Besonderes.“ Nachdem ihm genaustens erklärt wurde, wie das Grenzverfahren ablaufe, begab sich Neumann noch am selben Abend zum Bahnhof Friedrichstraße, zuvor hatte er sämtliche Schilder aus seiner Kleidung entfernt und seine Taschen gefüllt mit allerlei Schweizer Krimskrams; ein paar Franken und einer alten Kinokarte, welche ihm der Überbringer des Passes gegeben hatte. Diese Vorkehrungen stellten kaum ein Problem dar, viel schlimmer hingegen war der Schweizer Dialekt, den Neumann nicht beherrschte. So beschloss er, so unfreundlich wie möglich auf die Grenzer zu wirken und am besten gar nicht zu reden.
Dies ist ihm gelungen. Als einer der Letzten, die mit falschen Pässen über die innerstädtische Grenze Berlins geflohen sind, kam Joachim Neumann am Abend des 21. Dezembers 1961 in Westberlin an.
Nur kurze Zeit später hatte sich die DDR etwas Anderes einfallen lassen, um die eigenen Bürger an der Flucht zu hindern. Der Pässeschmuggel fand sein jähes Ende durch die Einführung von Einreiselisten, welche die Eingereisten an den jeweiligen Kontrollpunkten dokumentierten und dazu verpflichteten, am Abend über den selben Kontrollpunkt in den Westen zurückzukehren.
Dem eigentlichen Besitzer des Schweizer Reisepasses dankte er in einem Brief, ob dieser jemals angekommen ist, weiß er jedoch nicht.

Vom Flüchtling zum Tunnelbauer


Inzwischen, so erzählt Neumann, waren er und drei oder vier Freunde von ihm in Westberlin, alle gewillt, auch anderen bei der Flucht in den Westen zu helfen. Seine persönliche Motivation, welche jedoch auf viele der Fluchthelfer zutraf, war das Versprechen an Freunde sowie an seine Freundin, die nach wie vor im Osten waren, dass er sich darum kümmern würde, ihnen in den Westen zu verhelfen.
Im Notaufnahmelager Marienfelde lernte einer der Freunde einen jungen Mann kennen, der in Verbindung mit einer Gruppe von Tunnelbauern stand und versprach, nach Beendigung des Aufnahmeverfahrens den Kontakt herzustellen. Allerdings ging kurz darauf durch die Presse, dass es am S-Bahnhof Wollankstraße zu Bahnsteigabsenkungen gekommen war und entgegen aller Hoffnung handelte es sich bei dem entdeckten Tunnel um den, an welchem Neumann und seine Freunde gehofft hatten, mitwirken zu können. Dann jedoch erhielten sie über einen Bekannten Kontakt zu einer Verbindungsstelle im damals noch so benannten Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, welche wiederum ein Treffen mit der Gruppe um Hasso Herschel organisierte. Von Anbeginn bestand eine gewisse Sympathie zwischen Neumann und Herschel, so sagt er, was die anderen anbelangte, war dies nicht ganz der Fall, doch entscheidend für so ein gemeinsames Unternehmen, den Bau eines Tunnel unter der Berliner Mauer, war vor allem gegenseitiges Vertrauen. Insgesamt war die Gruppe um Hasso Herschel nicht so konspirativ wie vielleicht andere. Die meisten kannten sich mit Vor- und Zunamen, vor allem weil man auch anfing privat miteinander zu verkehren, wenn sich jemand jedoch nur mit einem Spitznamen vorstellte, wurde auch nicht nachgefragt.
Der Tunnel, den Herschel und seine Gruppe bereits begonnen hatten und an dessen Bau nun auch Joachim Neumann und seine Freunde beteiligt waren, wurde später als Tunnel 29 bekannt. Waren zu Beginn der Bauarbeiten die Gedanken vor allem noch darauf gerichtet, die Sicherheit im Tunnel zu gewährleisten, sich nicht ständig vorzustellen, was wohl passiert, wenn der Tunnel hinter einem zusammen bricht, nahm mit zunehmenden voranschreitender Arbeit auch die Überlegung zu, was nun folgen würde, wie man die Fluchtaktion bewerkstelligen könnte. In diesem Kontext, so erklärt Neumann, tauchte auch die Frage nach Waffen auf, die sich im Verlauf, durch den Tod der Tunnelbauer Heinz Jercha und Siegfried Nofke durch Mitarbeiter der Stasi, in eine Richtung wandte, welche anfangs gar nicht so bedacht wurde; die Bewaffnung der Tunnelbauer zur eigenen Verteidigung. Dass dies konträr zu seiner anfänglichen Auffassung stand „die Freiheit bei der Flucht riskieren ja, das Leben jedoch nicht“, ist Neumann durchaus bewusst, doch, so erklärt er, wächst man in eine solche Situation hinein, man kann vorher nicht wissen was kommen wird. Doch man könne keine Fluchttunnel buddeln, ohne nicht auch das eigene Leben zu riskieren. Die nachträgliche Betrachtung bestärkt Joachim Neumann in seiner Ansicht, mit dem Tunnelbau nicht viel falsch gemacht zu haben, ein sich lohnendes Risiko eingegangen zu sein, denn von den sechs Tunneln an denen er beteiligt war, waren drei erfolgreich.
Als die Bauarbeiten am Tunnel 29 aufgrund eines Wassereinbruchs zeitweise eingestellt werden mussten, schlossen sich Neumann und seine „Kollegen“ für ein paar Tage einer Gruppe um Fritz Wagner an, die einen Tunnel in der Kiefholzstraße planten, welcher in einem Einfamilienhaus enden sollte. Jedoch, so sagt Neumann, war die Organisation miserabel, die Familie entgegen der Behauptungen Wagners scheinbar nicht über die geplante Aktion aufgeklärt und rief nach dem Tunneldurchbruch die Polizei.
Als, auf Grund eines erneuten Wassereinbruchs, der Tunnel 29 früher als ursprünglich geplant geöffnet werden musste, befand sich Neumanns Freundin noch im Urlaub und somit nicht erreichbar. Der Plan, sie durch diesen Tunnel nach West-Berlin zu holen, war somit gescheitert, das Wiedersehen in unvorhersehbare Ferne gerückt, doch lies dies nicht die Motivation Joachim Neumanns schwinden, sich an weiteren Tunnelprojekten zu beteiligen.

Der verratene Tunnel und erneutes Scheitern


Fünf Monate bauten Neumann, Herschel und die anderen an dem Tunnel zur Brunnenstraße, ergriffen alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen und doch stand am Ende die Stasi im Keller.
Als am Tage des Durchbruchs zwei Kuriere nicht zurück gekommen waren, war allen der Ernst der Lage bewusst, doch wenn man so viel Energie und Zeit in den Bau eines Tunnels investiert, so Neumann, dann hört man nicht einfach auf, sondern sucht nach anderen möglichen Erklärungen für das Fehlen der Kuriere. Gewarnt durch das Verschwinden, wurde vor dem endgültigen Durchbruch ein kleines Loch in den Kellerboden geschlagen, an welchem Hasso Herschel sehr lange horchte und versuchte, die Situation am Ende des Tunnels, im Keller im Osten, einzuschätzen. Ein Rascheln von Kleidung, dann ein Schatten im Halbdunkel, der hinter einer Säule hervor schaute und sich wieder verbarg. Spätestens da wurde klar, dass in dem Keller jemand war und dass es sich dabei nicht um Flüchtlinge handelte. Nur die enorme Vorsicht und ein schneller Rückzug verhinderten, dass Neumann und die anderen von der Stasi verhaftet wurden.
Erst 30 Jahre später mit der Aufarbeitung der BstU-Akten haben die Tunnelgräber herausbekommen, was an jenem Tag zum Scheitern ihres Projektes führte. Eine Frau, die durch den Tunnel fliehen wollte, erzählte in der Nacht vor der geplanten Flucht einem Freund von ihrem Vorhaben, nicht ahnend, dass er für die Stasi arbeitete. Er gab seine Informationen über eine geplante Flucht weiter an seine Vorgesetzten, welche die junge Frau beschatteten, so wussten sie wer die Kuriere waren und kamen über diese wiederum an weitere Flüchtlinge. In Folge dessen wurden sehr viele verhaftet, die Gruppe um Hasso Herschel löste sich auf.
Entgegen Neumanns Befürchtung, dass auch seine in Ost-Berlin wohnende Freundin und ein Freund verhaftet wurden, kamen sie noch einmal davon. Joachim Neumann suchte aber nun händeringend nach einer Möglichkeit, sie nach West-Berlin zu holen und gelangte so über Kontakte an die „Gruppe Fuchs“, die gerade an einem Tunnel unter dem Güterbahnhofsgelände aus Richtung der Eberswalder Straße hin zur Kopenhagener gruben. Jedoch kam es zu Senkungen in der Straße, der Tunnel musste aufgegeben werden und Neumann erfuhr quasi zeitgleich, dass seine Freundin in Folge des Verrats des Tunnels in der Brunnenstraße festgenommen wurde. Seine Hoffnung, sie noch vor einer Verhaftung durch die Stasi nach West-Berlin holen zu können, war somit verloren.
Wie genau sich die Gruppe finanziell organisierte, weiß Neumann bis heute nicht. „Klar war aber, dass Fuchs die Kontakte hatte und die Gelder beschaffte, über Film- , Bild- und Fotorechte und auch Beteiligung der CDU und nicht alles aus eigener Tasche finanzierte, daraus machte dieser keinen Hehl.“ Für die Tunnelbauer war es vor allem entscheidend, dass die benötigten Werkzeuge sowie Nahrung und Getränke vorhanden waren. Während Fuchs also der Organisator der Sache an sich war, wurde die Verteilung und Durchführung der Arbeit weitgehend von den Tunnelbauern selbst in die Hand genommen und ergab sich als recht zwanglos: Wer gerade Zeit hatte war da, manchmal auch 14 Tage am Stück, und wer körperlich mehr leisten konnte als andere, der tat dies.
Einmal in Kontakt mit der Gruppe Fuchs war Neumann auch an deren nächsten Projekt beteiligt, wieder von der Bernauer Straße, von einer alten Bäckerei aus. Geplant war, dass dieser Tunnel Ende 1963 fertig gestellt werden würde, doch zeigte sich hier der Einfluss der Politik auf die Tunnelbauer. Aufgrund des Passierscheinabkommens zwischen dem Berliner Senat und der DDR-Regierung wurden die Tunnelgräber gedrängt, den Tunneldurchbruch nach hinten zu verschieben, um so das Abkommen nicht zu gefährden. Als dann der Tunnel Anfang Januar '64 geöffnet wurde, standen die Fluchthelfer, resultierend aus Fehlern bei der Vermessung, auf dem Kohlenplatz, welcher namengebend für diesen Tunnel wurde. Ein herber persönlicher Rückschlag für Neumann, war er doch verantwortlich für die Vermessungen. Das Wichtigste beim Tunnelbau, so erzählt er, ist der Optimismus. „Man muss daran glauben, dass man es schaffen kann, dass beim nächsten Mal die Vermessung stimmt, anders funktioniert es nicht.“ Die 80x90 cm breiten Tunnel, die nur auf allen Vieren durchquert werden konnten, waren keine Vorzeigeobjekte von Genauigkeit. In Schlangenlinien verliefen sie unter der Mauer in Richtung des mittels eines Theodoliten, ein Gerät welches Winkel sowohl in der Höhe als auch in der Fläche misst, angepeilten Ziels. Beim buddeln wurde sich alle paar Meter umgedreht und dann der Tunnel, je nach dem in welche Richtung man abgekommen war, nach links oder rechts korrigiert, statt auf Laser musste sich auf das Glück und gutes Augenmaß verlassen werden.
Obwohl der Tunnel auf dem Kohlenplatz endete und daher die „Aktion“ abgeblasen wurde, kamen in jener Nacht drei junge Frauen durch den Tunnel in den Westen, während alle anderen Flüchtlinge die Warnzeichen gesehen haben und umgekehrt sind. Wie die drei das Loch überhaupt finden konnten, bleibt für Neumann unklar, aber dass sie es irgendwie schafften, lässt ihn heute fragen, ob sie vielleicht zu vorsichtig waren und in jener Nacht, noch mehr Menschen die Flucht hätten ermöglichen können. Allerdings stellte die Flucht über einen Platz, der von allen Seiten gut einsehbar war, eine Gefahr für Flüchtlinge wie auch Fluchthelfer dar, die sie damals nicht bereit waren einzugehen.

Tunnel 57


Nur kurze Zeit später ging von jener Bäckerei in der Bernauer Straße das nächste Tunnelprojekt aus, jene Fluchtstrecke, welche später den Namen Tunnel 57 bekommen sollte. Joachim Neumann, so erzählt er, konnte hier jedoch nur sporadisch mitwirken, zu sehr hatte sein Studium unter seinen Tätigkeiten als Fluchthelfer gelitten und er stand kurz davor, sein Stipendium zu verlieren. Schon einmal hatten Zufall und gute Kontakte geholfen. Einer der Tunnelgräber war Hilfsassistent am Lehrstuhl für Bergbau und sprach, wissend um die Gefahr des Stipendienverlusts mit einem Professor, welcher Neumann ein Semester Unter-Tage-Praktikum bescheinigte und ihm so für ein weiteres Semester das Stipendium rettete.
In der Nacht des Durchbruchs war Neumann jedoch wieder an vorderster Stelle dabei. Entgegen des ursprünglichen Vorhabens endete der Tunnel in einem ehemaligen Toilettenhäuschen im Hinterhof des Hauses in Ost-Berlin, eine ungeplante Tatsache, die sich aber als gar nicht so schlecht erwies, denn, so Neumann, im Keller einer fremden Person herauszukommen barg auch immer die Gefahr, ungeahnt auf den Mieter zu treffen. Zu viert waren die Fluchthelfer durch den Tunnel in den Osten gekommen, zwei standen im Haus, warteten auf die Flüchtlinge und leiteten sie weiter in den Hinterhof, wo Neumann im Toilettenhäuschen stand und sie durch das Einstiegsloch hinunter in den Tunnel gleiten ließ, wo der vierte Mann sie in Empfang nahm. Eigentlich verhielten sich alle Flüchtling wie mechanische Puppen, so erzählt Neumann. Ohne nachzufragen zogen sie Schuhe aus, eine Maßnahme, um das Klappern auf dem Boden zu vermeiden, nahmen die Arme hoch und ließen sich an der Hüfte zur Seite schieben und in das Loch nach unten gleiten. Die enorme Anspannung unter der die Flüchtlinge standen, hatten die Fluchthelfer immer zu beachten. „Wir mussten immer für die mitdenken“ erzählt Neumann, „klare Anweisungen geben und auch mal über ein vergessenes Codewort hinwegsehen.“ Als dann einer seine Kollegen mit einer jungen Frau kam und meinte, dass sie unglaublich nervös sei, dachte sich Joachim Neumann nicht viel dabei. Genau wie die anderen nahm er sie, um ihr in das Loch zu helfen, als sie sich plötzlich erkannten. Seit seiner Flucht aus Ost-Berlin hatten sie sich nicht mehr gesehen und jetzt standen sich Joachim Neumann und seine Freundin und zukünftige Ehefrau in einem alten Toilettenhäuschen gegenüber. Dieses Wiedersehen nach über zwei Jahren war wohl mehr dem Glück als allem anderen zu verdanken, da Neumanns Freundin erst einige Tage zuvor frühzeitig aus der Haft entlassen wurde. Erst am Nachmittag hatte Joachim Neumann in einem Brief von der Entlassung erfahren und suchte nun händeringend nach einem Kurier, der in Ostberlin seine Freundin zu informieren konnte, während er selbst sich auf den Weg in die Bernauer Straße machte.
In der zweiten Fluchtnacht kam dann einer der beiden Tunnelbauer aus dem Hausflur zu Neumann und sagte, dass eben zwei Männer erschienen waren, die behaupteten Flüchtlinge zu sein, aber noch einmal kurz zurück müssten, um noch einen dritten zu holen, der sich bis jetzt nicht getraut habe. Den Fluchthelfern war klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Vereinbart war, wer die Fluchtaktion entdeckt, der wird gezwungen mit durch den Tunnel zu kriechen, dass jemand Polizei oder Stasi alarmierte, war ein zu hohes Risiko. Doch es war passiert, die beiden hatten sich losgerissen und waren davon gelaufen und nun mussten Neumann und die anderen entscheiden, was zu tun sei. Derjenige unten am Tunneleingang sollte bereits zurück in den Westen, die anderen wollten sich zurückziehen und abwarten, im Notfall schon einmal mit ein paar Meter Vorsprung. Schließlich mussten sie ja wissen, so erklärt Neumann, ob der Tunnel tatsächlich verraten wurde, oder ob man ihn noch eine dritte Nacht öffnen könne. Der andere Tunnelbauer, der Neumann informiert hatte, sollte zurück in den Hausflur, dem vierten Bescheid geben, dass man sich zurück ziehen wolle, doch letztlich kam alles anders.
Neumann stand im Toilettenhäuschen und wartete, wie lang, das weiß er nicht mehr, dann sauste plötzlich einer der beiden anderen an ihm vorbei, schrie „Gefahr! Gefahr!“ und verschwand in den Tunnel. Ohne innezuhalten oder Rückfragen zu stellen, sprang Neumann hinterher, im vollen Wissen darüber, was wohl passiert sein musste. Wie um die Situation noch zu verschlimmern, war derjenige am Tunnelanfang noch nicht weggekrochen und so steckten die drei nun fest, kamen nicht vor nicht zurück, der eine beim anderen auf der Schulter. Dann fielen Schüsse, kurz darauf sprang der Vierte obenauf, durch den Druck löste sich das Menschenknäuel und so schnell wie nur möglich krabbelten die vier zurück in Richtung Westen. Dort angekommen erzählte der als letztes ins Loch Gesprungene, dass tatsächlich Bewaffnete gekommen waren, welche die beiden Fluchthelfer aufgefordert hatten mitzukommen, einer von ihnen war gerannt, hatte seine Chance in der Flucht erkannt, der vierte Fluchthelfer aber stand nun am Hoftor und hätte direkt am Maschinengewehr vorbei laufen müssen. Mit der Pistole hat er ins Dunkel geschossen, das Stöhnen und Fallen einer Person gehört und ist dann gerannt.
Als dann am nächsten Tag die Ostberliner Nachrichten bekannt gaben, dass der Unteroffizier der Grenztruppen Egon Schulz erschossen wurde, ging der vermeintliche Schütze davon aus, dass dies sein Verschulden war. Über dieses Wissen, so erzählt Neumann, sei sein Freund nie hinweg gekommen, noch bevor die Stasi-Akten in den 90er Jahren geöffnet wurden und der tatsächliche Tathergang ersichtlich wurde, ist er gestorben ohne je zu erfahren, dass er den Tod von Egon Schulz nicht zu verschulden hatte.
Der Tod von Egon Schulz veränderte auch die Meinung der Öffentlichkeit gegenüber der Fluchthilfe. Diese anfangs sehr positive Stimmung wurde noch einmal im Jahr '62 verstärkt, als innerhalb weniger Monate zwei Tunnelgräber von Seiten der Stasi erschossen wurden. Mit dem Tod von Egon Schulz aber kamen Fragen auf wie ob sich diese Art der Fluchthilfe überhaupt lohne, oder ob das Risiko, Menschenleben zu gefährden nicht zu groß sei. In der Ostpresse, so erzählt Neumann, ging es gar so weit, dass nicht von einem Fluchttunnel die Rede war, sondern der Tunnel eigens dafür gebaut wurde, um Ostberliner Grenzsoldaten zu erschießen. Diese Anschuldigungen waren für Neumann und seine Kollegen unfassbar. In Westberlin wurde sogar ein Verfahren gegen sie eingeleitet, welches jedoch daran scheiterte, dass das Amtshilfegesuch von Ostberlin unbeantwortet blieb. Das der damals erstellte Obduktionsbericht deutlich belegte, dass Egon Schulz versehentlich von den eigenen Leuten erschossen wurde, kam erst in den 90er Jahren ans Licht, zu spät für den vermeintlichen Todesschützen.

Das Leben nach dem Tunnelbau


Der Tunnel 57 war das letzte Fluchtprojekt, an dem Joachim Neumann beteiligt war. Zu sehr hatte das Studium unter seinem Engagement in der Fluchthilfe gelitten und vor allem war es endlich gelungen, seine Freundin und künftige Frau in den Westen zu holen. Entgegen kursierender Gerüchte von Rückentführungen in die DDR blieben sie vorerst in Berlin, nicht zuletzt weil ein weiterer Universitätswechsel für Neumann nicht in Frage kam und auch hatte er diese Gefahr nicht so stark gesehen. Doch, so erzählt Neumann, habe man manche dunkle Ecken, am besten noch in Mauernähe, wenn möglich gemieden und U- und S-Bahnen die durch den Osten der Stadt fuhren nie benutzt. Dies, so sagt er, wäre doch eine zu große Herausforderung des eigenen Schicksals gewesen.
Nach dem Studium zogen sie gemeinsam nach Frankfurt am Main, in eine völlig andere Welt, weit weg von Berlin, in welcher die Vergangenheit als Tunnelbauer für Neumann kaum eine Rolle spielte. Fast 30 Jahre lang hatte er über das Geschehene nur selten gesprochen, manchmal mit alten Freunden, in seiner Firma wusste lange Zeit keiner davon. So wusste, bis auf seine Frau und die engsten Freunde, niemand, dass Joachim Neumann in der Nacht, als Egon Schulz erschossen wurde, ebenfalls im Hinterhof des Hauses war. Mit dem Ende der DDR änderte sich die Lage, die Angst davor, Verwandte in der DDR mit der eigenen Vergangenheit zu belasten, hatte nicht länger Bestand.
Heute wohnt Joachim Neumann wieder in Berlin. Für die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße ist er als Zeitzeuge tätig, erzählt Interessierten je nach Nachfrage 10 bis 15 mal im Jahr seine Lebensgeschichte. So richtig vorstellen aber kann man sich das Ganze wohl nicht, glaubt Neumann, schon ihm falle es schwer. Rein rational schon, aber vom Gefühl her könne er sich die Gefahr nicht mehr so richtig vorstellen, zu lang ist es schon her. Und auch privat kehrt er immer wieder zurück an die Orte, an denen er die Tunnel gebaut hat, meist wenn er Besuch hat, oder um seinen Enkelkindern die Vergangenheit und seine Geschichte näher zu bringen.

Diese Portrait basiert auf einem Interview mit Joachim Neumann am 23. Mai 2012.

Text: Wiebke Zeil