TF MAPPING

Tunnel Sebastianstraße 82


Am 4.6.1962 meldet der IM „Pankow“ einen evtl. schon im Bau befindlichen Tunnel an seinen Führungsoffizier beim Ministerium f. Staatssicherheit. Der vor ca. 4 Wochen republikflüchtig gewordene Hötger wolle seine Frau und Kinder schleusen. Hötger war in einem Hinterhof in der Marienstraße auf einen der langsam fahrenden Züge aufgesprungen, seine Frau mit den beiden Kindern war dazu aber nicht in der Lage, daher soll ein Tunnel gebaut werden. Ein leerstehender Laden mit Keller ist bereits gemietet, neben Hötger gehört ein G. N. zur Gruppe, der Mann von „Pankows“ Schwester. Ein Dritter der Gruppe, ein B., war wegen Spionage für den CIA inhaftiert und hat nun irgendeine Funktion beim Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen (UfJ), die den Tunnel unterstützen. Ein westdeutscher Student, H. S., hilft als Kurier. 3 Tage später, am 7.6 weiß „Pankow“ schon mehr. Der Tunnel beginnt in einer ehemaligen Schlosserei, einer Kellerwohnung in der Sebastianstraße. "Pankow" selbst und sein Schwester markierten gegenüber im Haus Heinrich Heine Straße 49 ein Kellerfenster an einer Stelle, an der ein Durchbruch möglich ist, um die Tunnelrichtung vorzugeben. Da die Frau von G.N. bei den Elektrizitätsbetrieben arbeitet, hatten sich beide unter dem Vorwand, im Keller was zu kontrollieren Zugang verschafft.
Am selben Tag entdecken Straßenbauarbeiter auf der Ostberliner Seite der Sebastianstraße vor der Nr. 45 ein 2m tiefes Loch unter den Gehwegplatten. Und am 9.6. bemerkt die Grenzsicherung eine lockere Platte vor der Nr. 48, unterdem sich ein Loch befindet, in dem ein Stollen mit Abstützung erkennbar ist (Es geschah..., S. 111). Die Kontrollmaßnahmen wurden sowohl von Bewohnern des Neubaublocks im Osten als auch von westlicher Seite aus beobachtet. Der den Vorgang bearbeitenden Major der Stasi veranlsst die konspirative Festnahme von Frau M. Ob dadurch eine Gefährdung der Observation ( „13.8.61: Mauerbau“, S. 102) verhindert oder eine Aufgabe des Projekts erzwungen werden sollte, bliebt unklar. Die Verzögerung durch die Verhaftung schafft jedenfalls genug Zeit, um einen geeigneten Beobachtungsposten einzurichten (Stasi Akte HA I 6086). Zwischen 10. und 12.6. wird dann noch die Verlobten der Kuriers festgenommen.
Zwar liefen bei Frau M. im Osten die Fäden der Flüchtlinge zusammen; aufgrund der Festnahmen steigen allerdings nur die beiden direkt betroffenen Tunnelbauer aus dem Vorhaben aus, andere kommen dazu, u.a. auch Noffke (Eisenfeld/Engelmann, S. 104); - es geht weiter. Neuer Kurier wird ein Arbeitskollege von Noffke, der Däne J. Auch R. S., der Hauswart, von dem der Keller gemietet worden war, macht jetzt mit. Am 22.6. erreicht der Tunnel fast den Keller des Hauses Heinrich Heine Straße 49, am nächsten Tag treffen sich Tunnelbauer Hötger und Flüchtling „Pankow“ am Gleimtunnel um die letzten Feinheiten des geplanten Durchbruchs zu verabreden. Der Gleimtunnel ist eine der zahllosen Stellen, an denen eine direkte Ost-West Kommunikation auch 1962 noch halbwegs möglich war. Der Durchbruch geht schief, ein zweites Treffen wird erforderlich, bei dem „Pankow“ von Grepos verhaftet wird. Nach der Freilassung wird per Telegramm ein neuem Trefftermin mitgeteilt, der Plan ist, am 24.6. um 15 Uhr durchzubrechen. Da das Haus normal bewohnt ist, muß der Durchbruch tagsüber stattfinden, wenn alle Hausbewohner bei der Arbeit sind. Auch dieser Versuch geht schief, beim nächsten Treffen werden die Flüchtlinge informiert, dass laufend Sand im Tunnel nachbricht. Der nächste Termin ist der 25.6. um 9 Uhr, der wieder nicht klappt. "Pankows" Schwester bringt einen neuen Flüchtling mit zum Treffpunkt, laut "Pankow" ein "kriminelles Element", dem nicht zu trauen ist und der deshalb festgenommen wird, was weiter keinen Verdacht erregt.
Nach fast 50 Tagen Arbeit gelingt am 28. 6 um 12 Uhr 15 der Durchbruch. „Pankow“ hatte sich wieder als vorgeblicher BEWAG-Mitarbeiter zum Keller Zutritt verschafft und gab die Klopfzeichen, um die richtige Stelle zu bezeichnen, der Durchbruch dauerte 8 Minuten.
Beide Seiten wähnten sich gut vorbereitet. Im Westen sichern 12 Polizeibeamte des Polizeireviers 106 in der Prinzessinenstraße, dessen Leiter engen Kontakt zu den Tunnelbauern hatte. Die Staatssicherheit im Osten hat eine Festnahme- und eine Tunnelverschlußgruppe im benachbarten Keller stationiert. Letztere soll mit einer stacheldrahtumwickelten Stange und Sandsäcken den Tunneleingang sofort verschließen, um den Fluchthelfern den Rückweg abzuschneiden. Hötger und Noffke steigen in den Keller, der dritte Fluchthelfer bleibt im Tunnel. Die Festnahmegruppe stürmt den Keller; einem der Beamten gehen die Nerven durch, er fängt an zu schießen, dann schießt mindestens noch ein zweiter. Verletzt werden „Pankow“, Höttger, Noffke und Unterleutnant L. Noffke wird trotz seiner schweren Verletzung sofort vernommen, er sagt aus, daß Polizei aus einer Kreuzberger Dienststelle drüben vor Ort ist. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt Noffke. L. hat einen Rückenmarksdurchschuß, "Pankow" einen Kopfstreifschuß und mehrere Einschüsse in Ober- und Unterschenkel. Alle Schüsse kamen von Staatssicherheitsleuten, die Tunnelgräber waren unbewaffnet.
Da „Pankow“ aufgrund seiner Teilnahme, Verletzung und Inhaftierung noch nicht dekonspiriert war, werden die Akten des Volkspolizei-Krankenhauses, in das er eingeliefert worden war, nachträglich gefälscht; alle Krankenakten werden eingezogen. In der Presse wird er unter seinem Klarnamen J. H. der „Terrorgruppe“ zugeordnet (Neues Deutschland, 8.7.1962). Allerdings wird seiner Frau, die offensichtlich ahnungslos war, schnell klar, was er für eine Rolle spielet. Sie wird „bis zu Genesung ihres Mannes mit monatlich 400 Westmark ruhiggestellt“ (Eisenfeld, Engelmann, S. 104).




Links die Sebastianstraße im Jahr 2012 von der Heirich-Heine-Straße aus gesehen. Die Gebäude sind zwar größtenteils modernisiert, sonst aber unverändert. Der Mauerverlauf ist rot markiert. Das Bild lässt sich durch Anklicken vergrößern.

Dreizehn Personen werden insgesamt verhaftet, der Tunnel wird noch am 28.6.1962 auf der DDR Seite zerstört - im MfS-Jargon "liquidiert". Er war 32 m lang, 1m hoch, 75 cm breit und angeblich im Zick-Zack gebaut.
Die Berliner Zeitung veröffentlicht am 8.7.62 mehrere Namen der Tunnelbauer und Hinweise auf weitere Tunnelprojekte. Am selben Tag sagt Hötger bei einer Vernehmung aus, dass im Haus Sebastianstraße 81 von Studenten ebenfalls ein Tunnel gebaut wird; das will er vom Hauswart erfahren haben. Am eigenen Tunnel war neben den bekannten Personen noch ein D. K. beteiligt. Im November wird der Prozeß gegen die 13 Personen eröffnet, darunter auch gegen Frau Noffke, Frau M., Hötger und "Pankow" (BZ 19.11.1962, Berliner Morgenpost 21./22.11.1962). Bis auf die Verbindung zum UfJ und - über M. - evtl. zum CIA gab es wohl keine Kontakte zu den professionelleren Fluchthelfergruppen oder anderen Tunnelgräbern. Allerdings wurde enger Kontakt zur zuständigen Polizeidienststelle gehalten. Alle Tunnelbauer wollten Bekannte oder Verwandte schleusen.




Gedenktafel am Gehweg vor der Nummer 49. Das Bild lässt sich durch Anklicken vergrößern.


(Die Namen Dieter Hötger und Siegfried Noffke werden im Text genannt, da beide bereits ausreichend medial präsentiert wurden; alle anderen Personen werden nur mit Initialen bezeichnet.)

Literatur:
Akten des MfS: HA I 4300 // Berliner Morgenpost 21./22.11.1962 // BZ 19.11.1962 // Eisenfeld, Engelmann, 2001, 13. August 1961: Mauerbau // Es geschah an der Mauer, 1988, Verlag Haus am Checkpoint Charlie // Neues Deutschland 8.7.1962

Text: U. Bauer