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Portrait Winfried Schweitzer


Winfried Schweitzer Tunnel 57

„Angesichts der regen Tätigkeit der Mauerspechte möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich von dieser Mauer kein Stück haben möchte. Dafür klebt mir zuviel Blut an diesen Steinen. Ich bewahre etwas anderes. Ich habe ein wenig in einer Zigarettenschachtel getrockneten Lehmboden, den ich mir damals abgekratzt habe im Tunnel unter der Bernauer Straße, ungefähr 12 Meter unter der Mauer.“ Winfried Schweitzer: Meine persönliche Mauergeschichte. 1990

„Du musst ein Verrückter sein.“
Winfried Schweitzer war einer der „Verrückten“. Als solchen sieht er sich heute. Er grub mit anderen den sogenannten Tunnel 57 in der Bernauer Straße. Heute erinnert in der Bernauer Straße eine Gedenkstätte an die Berliner Mauer, die Ost- und Westberlin teilte. Außerdem wird dort an die Fluchttunnel in der Bernauer Straße erinnert, welche Ost- und Westberlin wieder ein Stück weit vereinen wollten.
„An die Wiedervereinigung habe ich immer geglaubt.“
Winfried Schweitzer wuchs in Thüringen und später in Berlin-Wedding auf. Politisch interessiert war er schon als Jugendlicher. Als Achtzehnjähriger erlebt er die Teilung Berlins, was für ihn unerträglich war. So wie sich heute junge Menschen in Umweltthemen interessieren, war sein Protest gegen die Berliner Mauer gerichtet. Direkt nach seiner Lehre bekommt er 1961 einen Studienplatz an der FH in West-Berlin- nur möglich, weil die Ostberliner Studentinnen und Studenten sich dort nicht mehr immatrikulieren konnten. Im Wintersemester nach dem Mauerbau begann Winfried Schweitzer dort Bauingenieurswesen zu studieren.
„Wolfgang Fuchs war der bekannteste Fluchthelfer.“
Eines Tages wurde Winfried Schweitzer an der FH auf den Tunnelbau angesprochen. Selbstverständlich wussten sie vorab schon genau seine Motivation und politische Gesinnung bezüglich der Mauer. Er wurde wahrscheinlich außerdem als vertrauenswürdig eingestuft.
Zusammen mit Reinhard Furrer, Klaus von Keussler und Peter Schulenburg arbeitete Wolfgang Fuchs mit der Rekrutierung der Tunnelbauer. Das bedeutet, er sprach mit Bekannten, ob sie jemanden kennen, der für den Tunnelbau in Frage kam. Unter dem Vorwand, dass sie jemand zur Vermessung benötigten, wandten sie sich an Winfried Schweitzer. „Im Endeffekt brauchten sie eigentlich jemanden der buddelt“ und sie bei dem Tunnelbau tatkräftig unterstützen kann. In einem Restaurant trafen sie sich vorab, ohne dabei ihre Namen zu nennen- aus reiner Schutzmaßnahme, wie Winfried Schweitzer heute verdeutlicht. Über Privates wurde zwischen den Tunnelbauern nicht gesprochen, man erzählte sich nicht, wo man wohnte oder arbeitete.
„Das war also höchst gefährlich!“
Eines Tages wurde Winfried Schweitzer mit einem VW-Bus abgeholt. Seine Familie und seine Freundin wussten nichts von seinem Vorhaben. Die Orientierung hatte er in dem mit Gardinen verhangenen Auto schon nach kurzer Zeit vollkommen verloren, da sie kreuz und quer durch Berlin fuhren. An einer Straßenecke hielt der Bus endlich und Winfried Schweitzer stieg aus. Die Ehefrau von Wolfgang Fuchs, Selina, holte ihn ab und hackte sich bei ihm unter. Wie ein Pärchen schlenderten sie die Bernauer Straße ca. 150 Meter entlang, bis zu einer ehemaligen Bäckerei. Im Bäckerladen kampierten die Tunnelbauer auf Feldbetten. Der Keller darunter war der so genannte Tunnelkeller.
Der Tunnel bestand aus einem rund zwei mal zwei Meter tiefen Schacht, der ungefähr zwölf Meter in die Tiefe führte. Bereits die Hälfte des insgesamt 145 Meter leicht ansteigenden Tunnels war bereits fertig, als Schweitzer zum Mitgraben geholt wurde. Er musste sich verpflichten zwei bis drei Wochen dort zu arbeiten, ohne die Bäckerei zu verlassen. Es wäre zu auffällig, wenn ständig junge Menschen ein- und ausgingen. So ging nur Selina Fuchs gelegentlich einkaufen, um das aller Nötigste für die Männer zu beschaffen.
„Ich habe nichts spektakuläres da mitgemacht. Ich war nicht am Anfang dabei. Ich war nicht am Ende dabei. Ich war mittendrin“, verdeutlicht Winfried Schweitzer. In der Bernauer Straße wurden insgesamt acht bekannte Fluchttunnel gegraben. Dies hatte mit den Bodenverhältnissen zu tun: Anders als an den meisten Stellen in Berlin gab es dort keinen Sand- sondern einen schweren Lehmboden.
„Das war für mich absurd!“
Der Schacht, der vom Tunnelkeller zwölf Meter in die Tiefe führte, war unausgesteift. „Das war für mich absurd, als Bauingenieur!“ Insgesamt war der Tunnelquerschnitt ca. 90 x 80 cm breit, wobei am Tunnelanfang (in West-Berlin) Wasser stand. Da sie jedoch leicht ansteigend buddelten, stießen sie nicht weiter auf Grundwasser. Dafür aber auf Anderes, wie auf ein Stromkabel, welches sie vorsichtig „umbuddeln“ mussten. Das Grundwasser wurde in den bereits mit Wasser vollgelaufenen Kohlenplatztunnel gepumpt. Nach Winfried Schweitzer lag dieser Nachbartunnel jedoch höher als der, in dem sie sich gerade aufhielten. Wenn der Kohlenplatztunnel den Wassermengen nicht stand gehalten hätte, dann wären sie ertrunken. „Das war für mich eine Horrorvision, die mich ständig begleitete.“, schildert Schweitzer.
„Wir waren ja keine Kinder von Traurigkeit.“
Der harte Alltag des Tunnelbauens sah wie folgt aus: Alle zwei bis zwei ein halb Stunden wurde die Person, die mit dem Elektrohammer vor Ort arbeitete, ausgewechselt. Die Luft wurde für diese Person sehr knapp und daher die Arbeit auf Knien noch einmal mehr anstrengend. Pro Tag schafften sie es sich ein bis anderthalb Meter vorzuarbeiten. Über dem Schacht gab es eine Winde, die mit einem Motor betrieben wurde. Über diese Winde wurden die Männer, die zwölf Meter in die Tiefe mit einem Brett, auf welches sie sich setzten, gelassen. Während der Arbeit wurde über dieselbe Winde mit einer Satte der Sand den Schacht nach oben befördert. Trotz des harten Alltags erlaubten sie sich untereinander den ein oder anderen Scherz: die Frischluft wurde mit einem Feuerwehrschlauch nach vorne geblasen, sodass der Arbeiter am Tunnelanfang ein wenig Sauerstoff hatte. Durch diesen Schlauch haben sie auch Cognac gekippt- dann gab es nicht nur Sauerstoff, sondern auch ein wenig Spaß während der Arbeit unter Tage.
Selbstverständlich war die Arbeit gesundheitlich sehr riskant. „Als junger Mensch ist man da sehr viel leichtgläubiger und steckt das weg und denkt, das ist nichts.“ Winfried Schweitzer stand eines Tages im Tunnel und belud die Satte mit Sand, die dann per Seilwinde zwölf Meter hoch gezogen wurde. Als er unter der Satte stand, ist das Seil der Winde gerissen und der schwere Sand fiel Winfried Schweitzer – zum Glück, wie er heute sagt- nur auf die Schulter. Insgesamt war Winfried Schweitzer drei Wochen im Tunnel an der Bernauer Straße. Als das Ende des Tunnel fertiggestellt war, war Winfried Schweitzer nicht mehr vor Ort. Schweitzer wollte Funkgeräte besorgen und hoffte sein Vater könne ihm dabei helfen. Dazu ist es nicht gekommen. Dennoch ließen die fehlenden Funkgeräte ihn nicht los, als der Grenzsoldat Egon Schulz erschossen wurde. Mit funktionstüchtigen Funkgeräten, hätte der Schusswechsel verhindert werden können, da man von West-Berlin den Hof gut einsehen konnte und die Gefahr frühzeitig hätte funken können.
Nach dem erfolgreichen Tunneldurchbruch sind insgesamt 57 Menschen nach West-Berlin gelangt. Dabei war das Tunnelende in Ost-Berlin nicht wie geplant in einem Keller, sondern in einer Sickergrube eines aus dem letzten Jahrhundert stammenden Toilettenhauses auf einem Hof. Als der Tunneldurchbruch stattfand, wurden Funkgeräte von einem West-Berliner Polizisten beschafft - jedoch funktionierten diese nicht einwandfrei. „Für mich ist Egon Schultz ein Mauertoter wie alle anderen auch. Was ich immer als tragisch empfunden habe - er ist mein Jahrgang.“, wie Schweitzer uns emotional verdeutlicht.
Am Tag nach dem Schusswechsel war die Medienberichterstattung katastrophal. Ein Grund, warum Herr Schweitzer heute kaum den Medien mehr traut. An einem weiteren Tunnel hat er nicht mehr mitgebaut. „Durch die Brand-Vorgehensweise haben sich die Dinge normalisiert.“ So war die große Tunnelbauphase Anfang 1964 beendet. Natürlich auch, weil die DDR ihre Grenze ausgebaut hatte, aber auch weil seit dem 19. Dezember 1963 bis zum 5. Januar 1964 es West-Berliner erlaubt worden war, in den Ostteil der Stadt zu verreisen. Dieses „Passierscheinabkommen“ stand unter einer enormen politischen Anspannung. Ein Tunnel von West- nach Ost-Berlin hätte dieses Abkommen stören können. „Offiziell, von der Presse her, hat man uns natürlich bejubelt. Aber sachlich betrachtet störten unsere Arbeiten die politischen Verhandlungen um das Passierscheinabkommen.“
„Wenn ich heute in die Bernauer Straße gehe, dann gehen mir immer noch die Knie!“
Die Flüchtlinge, die damals durch den Tunnel nach West-Berlin gelangten, lernte Winfried Schweitzer erst nach der Wende kennen. Einmal im Jahr treffen sie sich und erzählen über die vergangen Zeit im Tunnel 57. Winfried Schweitzer war lange Jahre als Bauingenieur und Architekt tätig. Er lernte Willy Brandt und Richard von Weizsäcker persönlich kennen, da er weiterhin auch etwas politisch aktiv war. Manchmal geht er in die Bernauer Straße, wo sich nur mit Hilfe der Gedenkstätte die damalige Situation noch erahnen lässt. „Wenn ich heute in die Bernauer Straße gehe, dann gehen mir immer noch die Knie!“

Die Grundlage des Artikels bietet ein Interview mit Winfried Schweitzer, geführt am 13. Februar 2012.

Text: Christina Koch