West - Ost - Tunnel
geplante Länge etwa 270 m, gegraben etwas über 150 m
Maße: Höhe 1,2m, Breite 0,8m
Ziel: Korsörer Straße
Im Januar 1964 häufen sich bei der Stasi die Hinweise auf einen Tunnelbau im Berliner Norden. Von IM "Hardy", der innerhalb der Girrmann-Gruppe arbeitet, kommt die Information, er und ein Freund hätten Schlafsäcke, die für Fluchtaktionen da wären, aus dem Haus der Zukunft zu einem Blumenladen gebracht und bei der Frau von einem „Hotta“ abgeliefert.
Ein zweiter Spitzel, IM „Saul“, arbeitet in einer Westberliner Autowerkstätte, die auch Fluchtautos umbaut. Er berichtet, dass Horst B. am 13.1. auf den Autohof kam, sich auf Gehrmann berief und zugesägtes Holz, das hier gelagert wurde abholte.
Der dritte Bericht stammt von IM „Friedrich“: Gehrmann erzähle herum, daß der dicke Hotta und 4 weitere einen Tunnel bauen, der 145 m lang sei. Hotta und Horst B. sind offensichtlich identisch.
Die nächste Meldung am 30.1.64 von „Saul“ besagt, daß Gehrmann Luftschläuche braucht und daß die Tunnelbauer selber nicht wissen, wo der Tunnel ist, weil sie im verschlossenen Fahrzeug dahingebracht werden. Sowohl die SED Westberlin als auch „Saul“ und „Friedrich“ berichten, daß in der Bernauerstraße 78 Sand abtransportiert wird. Weiterhin wird berichtet, dass die Tunnelbauer bei Harbolla frühstücken sollen.
Zwei etwa zu dieser Zeit Verhaftete bestätigen bei der Vernehmung das Bekannte. Herbert Steinborn, Hans Gehrmann und andere bauen an einem Tunnel, um ca. 200 Personen zu schleusen; Gehrmann spricht von über 200 Kinokarten, die er besorgen muss, der Gewinn soll bei 800 000 DM liegen, das Stammlokal der Gruppe ist die S-Bahn-Quelle am Savignyplatz.
Etwa in dieser Zeit, stoßen Klaus K. und Peter O., die beide eine Schleusungsmöglichkeit für ihre Verwandten und Freunde suchen, auf Horst B. Dass es offensichtlich Streit im Umfeld der Gruppe gibt oder gab, spielt für die Beiden keine Rolle. Die Arbeit am zu diesem Zeitpunkt etwa 40-50m langen Tunnel geht nur schleppend voran. Grund: gearbeitet wird nur an Wochenenden oder manchmal nach Feierabend. Um die Flucht zu beschleunigen, nehmen dieTunnelgräber unbezahlten Urlaub und buddeln rund um die Uhr. In der Gruppe herrscht eine klare Arbeitsteilung. Horst B. organisiert, besorgt Geld und kommt jeden Tag an dem gegraben wird um morgens den mit Sand beladenen Lieferwagen aus der Garage zu fahren und ihn später leer oder mit Material zurück zubringen. Die andern graben nur (Arnold/Kellerhoff, 2008).
Durch weitere Informationen von IM „Friedrich“ verdichtet sich das Bild: Als Fluchthelfer sind nun auch Heinz S., Peter O., Peter H. und Josef S. bekannt, das Stammlokal ist das Birkeneck, der Transport erfolgt mit einem Ford Kastenwagen, den Hotta fährt. Der Sandaushub wird nach Lübars auf das Grundstück von O. transportiert. Bei einer dieser Fahrten sollen am 20.2. Hotta und S. in kontrolliert worden sein, die Fahrzeugpapiere passten nicht nicht zu den Kennzeichen. Gehrmann soll die Angelegenheit geregelt haben.
Als Maßnahmen wird intensiv der Bereich Bernauerstraße und Brunnenstraße überprüft. Offensichtlich nehmen die Ermittler den Spruch mit den Kinokarten ernst: ein Kino in der Brunnenstraße 154 wird ermittelt, das aber 310 m von der Grenze entfernt ist. Trotzdem wird es detailliert durchsucht, ein genauer Plan findet sich in der Akten. Daneben werden alle Kinos im Norden Berlins in Grenznähe überprüft. Eine Gaststätte Brunnen/Bernauer wird überwacht, genauso das Haus Bernauer Straße 78, alles negativ. Als weiteres Vorgehen wird die Beobachtung des Lieferwagens von Hotta angeordnet; „Saul“, „Friedrich“ und „Ernst“ sollen versuchen, den Kleintransporter zu beobachten. KP „Ernst“ arbeitet langsam seine Aufträge in der Bernauerstraße ab: am 12.2.64 erfolgt der Bericht über die Gaststätte Pilsator (Brunnen/Bernauer) und das Eckhaus, am 27.2.64 zum Haus Bernauerstraße 78, danach zu den Nummern 79 und 80. Alle Überprüfungen verlaufen negativ. Zu Hotta ist bekannt, dass seine Frau einen Blumenladen in der Lübeckerstraße besitzt.
Anfang März nimmt der IM „Hiller“, ein Mitarbeiter der AG Staatsgrenze) Kontakt zum Fluchthelfer B. auf, um die Schleusung seiner Braut zu veranlassen. B. mache allerdings keine Schleusungen mehr, er kenne aber nd - nicht Wagner - der einen guten Tunnel baue - insgesamt 300m lang, davon noch 60m zu bauen, die Schleusung würde etwa 3000 DM/Person kosten.
Am 11.3.64 stellt „Ernst“ fest, dass es kein Birkeneck, die angebliche Stammkneipe der Tunnelbauer, gibt, nur eine Birkenklause, in der alles unverdächtig ist. Die Suche nach dem Lieferwagenwagen im Bereich Wolliner, Graun, Rammlerstraße ist negativ. Hotta wird von der Stasi in „Birke“ umbenannt, die Observation wird zum operativen Vorgang. Obwohl die Suche intensiviert wird, ist der Lieferwagen vom 19. bis 22.3. nirgends zu finden. Am 22. 3. wird beobachtet, wie ein Mercedes den Lieferwagen anschleppt, dann fährt „Birke“ zur Tankstelle und dann ins Kino. Am 23., 24.3. und 1.-6.4.taucht der Wagen gar nicht auf. Am 9.4 . schleppt „Birke“ mit dem Lieferwagen eine BMW Isetta über Umwege in Richtung Gleimstraße, kurz vorm Gleimtunnel bzw. der Mauer biegen beide Fahrzeuge in ein Grundstück mit mehreren Schuppen ein.
Je länger der Tunnel wird, desto mehr Technik wird eingesetzt. Anfangs wurde der Tranportwagen für den Abraum von Hand gezogen, später wurde er motorbetrieben. Ab einer gewissen Länge musste Frischluft in den Tunnel geblasen werden, eine Gegensprechanlage wurde installiert, ein Wassereinbruch musste abgepumpt werden. Da es nicht mehr möglich ist, den gesamten Aushub wegzuschaffen, mietet B. die nebenstehende Grage, ein Mauerdurchbruch schafft die Möglichkeit, den Sand unbeobachtet hier unterzubringen.
Am 8.4.64 berichtet IM „Saul“ über seinen Besuch am Tunnel. Er beschreibt die Werkzeuge die rumliegen und die Transportkarre, die aus einem alten Kinderwagenuntergestell gebaut wurde. Der Ort des Tunnels ist aber immer noch nicht bekannt, da „Saul“ im verdunkelten Lieferwagen transportiert wurde. Die Stasi zieht sogar in Erwägung, dass der Tunnel evtl. fiktiv ist, da Gehrmann als Aufschneider bekannt ist und auch schon mit Tunnelprojekten kassierte, die es gar nicht gab.
Ein Bericht der Hauptaufklärung XX vom 10.4.64 rückt den Tunnel dann doch wieder zurüch in die Realität. Ein namentlich nicht genannter IM - vermutlich „Hiller“ - wird in die „Tunnel AG“ (so nennen sie sich selber) aufgenommen, die Einlage beträgt 500 DM. Am 6.4. wird er mit dem Ford Transit abgeholt, sie fahren zum Bahnhof Wilhelmsruh auf ein Schuppengelände und besichtigen dort den Tunneleinstieg. Es gibt im Tunnel elektrisches Licht und Frischluft; die Arbeit läuft seit 4-5 Monaten. Allerdings ergibt die Überprüfung des Berichts sehr schnell, dass es kein Gelände dieser Art gibt.
GI „Buchholz“ liefert am 21.5.64 eine genaue Beschreibung des Ford Transit: ein grüner Lieferwagen, der zwar hinten auch Fenster hat, die aber ebenfalls lackiert sind. Am 21.5. werden die Observationen in der Lübeckerstraße am Blumenladen abgebrochen, da sich eine Verkäuferin vom Imbiss auffallend für den Beobachter interessiert. Gemeldet wird auch noch, daß Gehrmann die Luftschläuche sucht, die beim Tunnel Legiendamm verwendet wurden. Bekannt wird auch, dass seit dem 17.5.64 eine Funkstation der Westberliner Polizei auf einem Hochhaus der Ernst-Reuter-Siedlung installiert ist, von der aus die Nordbahn beobachtet wird. Ein IM berichtet von einem Gespräch mit den anwesenden Beamten, aus dem hervorgeht, dass dort ein größerer Grenzdurchbruch erwartet wird.
Anfang September erreichen die Tunnelgräber das Ziegelfundament des östlichen Bahndamms, untergraben es und befinden sich nun unter dem Mauerstreifen in Ostberlin.
Etwa zur selben Zeit ist für die Stasi der Tunnelbau weitgehend aufgeklärt. Ausgangspunkt ist das Garagengelände Gleimstraße 62, Ziel ist vermutlich das Wohngebiet Korsörerstraße und Kopenhagenerstraße. Anfangs wurde der Tunnel durch Gehrmann finanziert, der aber nur große Sprüche machte, später dann durch die Tadic-Gruppe.
Am 9.9.64 werden in einem Plan zur weiteren Bearbeitung verschiedenen Vorschläge zur Liquidierung im Vorfeld gemacht. Vorgeschlagen werden eine Dekonspiration in Westberlin, z.B. durch Hinweise an die Polizei oder die Presse, eine Festnahme einer am Tunnel beteiligten Person und folgende Veröffentlichung in DDR-Medien oder Gegenmaßnahmen auf DDR-Gebiet zur weiteren Verunmöglichung.
In einer der folgenden Nächte durchsucht die Westberliner Polizei das Garagengelände und verhaftet die anwesenden vier Fluchthelfer. Die Mitteilung ist klar und unmissverständlich, die Ostberliner Behörden kennen den Tunnel, ein Weiterbau kommt nicht in Frage.
Was passiert ist, kann in der zeitung nachgelesen werden. Die BZ vom 16.9.64 meldete, daß der Maurer Peter O. als IM „Horst“ einen Tunnel verraten hat, an dem er selber mitgebaut hatte. Der Tunnel sei kurz vor der Vollendung gewesen. Peter O. stellte sich - am 15.9. - selbst der West-Polizei, die die anderen Tunnelbauer warnte. „Horst“ war beim Besuch seiner Freundin im Osten mit einem falschem Paß festgenommen worden und unterschrieb eine Spitzelverpflichtung. (ZAIG 10754)
Aus den Akten geht nicht hervor, ob das die beabsichtigte Dekonspiration war. Aufgrund der vorher angestellten Überlegungen, die Tunnel möglicht unspektakulär zu liquidieren und z.B. keinen Versuch zu machen, die ganze Gruppe beim Durchbruch zu verhaften, scheint diese Art, einen IM zu opfern eine sehr einfache und geglückte.
In einem Aktendeckblatt zum Vorgang wird kurz resümiert: Tunnel Gleimstraße 62 Garagengrundstück zur Korsörerstraße. / Bekannt ab 21.1.64 durch „Saul“. /Gebaut von Gehrmann, Steinborn, B........../ „Der Tunnel wurde durch operative Maßnahmen von uns, von den Tunnelbauern eingestellt“
Trotz der erfolgreichen Liquidierung bleibt die Gegend um das Gleisgelände an der Eberswaldrstraße weiter ein Schwerpunkt der Aufklärung. Ein Aktenvermerk vom 7.12.64 berichtet von Personen mit Sandspuren an der Kleidung auf dem Bahnhofsgelände nahe eines Schuppen; auch Holz soll nahe dem Stellwerk abgeladen werden. Die Beobachtungen wurden am 21.-23. 11. 64 gemacht. IM „Paul“, regt am 25.11.64 den Abriß einer Ruine auf dem Gleisgelände an, da dort Obdachlose hausen und der Bereich schwierig zu kontrollieren sei, ein alter Tunnel ist an dieser Stelle eingestürzt, es befinden sich vermehrt Polizei und Zoll auf dem Gelände.
Am 15.9.65 wird ein Plan zur Verhinderung einer Provokation an der Schwedterstraße/Korsörerstraße gefaßt.
Nach IM-Berichten will Horst B. den alten Tunnel weiterbauen. Es wird beschlossen, einen Gegenstollen vom Keller Korsörerstraße 13 /12 aus zu bauen. Der Mieter dort ist MFS-Offizier und der Tunnel wird konspirativ geplant. Allerdings erleidet am 20.9, dem Tag, an dem das Bauholz geliefert und der Tunnel begonnen werden soll, die Frau einen Nervenzusammenbruch. Die Beiden bekommen eine andere Wohnung zugewiesen und ziehen aus. Mit dem Tunnelbau wird begonnen.
Am 8.10.65 berichtet ein IM, daß B. und Steinborn das Projekt nicht mehr weiterführen wollen, da Grundwasser in den Stollen eingebrochen ist.
Zwischenzeitlich war auch auf der Ostseite gebohrt und Grundwasser festgestellt worden. Der Schacht und Gegentunnel –soweit er bereits gebaut worden war - werden gesichert und für spätere Maßnahmen erhalten.
(Bis auf die Namen von
Gehrmann und Steinborn, die bereits ausreichend medial präsentiert wurden, werden alle anderen Personen nur mit Initialen bezeichnet.)
Literatur:
Arnold Dietmar / Kellerhoff Sven Felix, 2008, Die Fluchttunnel von Berlin
Akten des MfS: ZAIG 10754 // HA I 4354, HA I 4355, HA I 13253
Links:
der Spiegel zur organisierte Fluchhilfe u.a. durch Gehrmann
Text: Uli Bauer