TF MAPPING

Tunnel Bergmann-Borsig-Werke


Richtung: von Ostberlin nach Westberlin
geplanter Verlauf: aus der Halle 10 des Fabrikgeländes des VEB Bergmann-Borsig zum S-Bahndamm Richtung Oranienburg
Länge: ca. 6-8 m
Ein Teil der Werksmauer des VEB Bergmann-Borsig war zugleich auch Grenzmauer zwischen dem Westberliner Stadtteil Reinickendorf und dem Ostberliner Stadtteil Wilhelmsruh (Pankow)
Zeitraum: Pfingsten 1962 (9.6-12.6.1962)
Fluchthelfer: keine

Das Werksgelände Bergann - Borsig heute.
der Mauerverlauf ist in Rot markiert,
der Bereich, in dem Halle 10 lag oder noch liegt in Blau.

Über Pfingstens 1962 sind drei männliche Arbeiter des VEB (1) Bergmann-Borsig, über einen Tunnel aus der Halle 10, vom Fabrikgelände aus in den Westen geflüchtet. Es handelte sich dabei um Udo P. (20 Jahre), Michael J. (20 Jahre) und Bert V. (18 Jahre). Alle drei hatten gerade ihre Ausbildung im Betrieb erfolgreich abgeschlossen.
Mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 wurde der VEB Bergmann-Borsig zum Grenzbetrieb. 2.008 Meter der Betriebsmauer wurden unmittelbar Teil der deutsch-deutschen Grenze. Zum Zeitpunkt der Tunnelflucht war die Grenzmauer bereits zusätzlich mit einem Kontaktzaun, mit einem Kolonnenweg für die Grenzsoldaten, mit Stacheldraht, Bunkern und Beobachtungstürmen ausgestattet (MVP 2009:197 (2)).
Im Gegensatz zu vielen anderen Tunneln wurde der Bergmann-Borsig-Tunnel nicht vorab detailliert geplant. Die drei Werksarbeiter hielten zunächst die Augen nach einer geeigneten Halle offen, aus der sie den Tunnel Richtung Westen graben konnten, und ließen ihre Wahl auf die Halle 10 fallen – dort arbeiteten sie und dort hatte einer von ihnen auch einen ehemaligen Schaltraum entdeckt, der vielversprechend schien. Einen Keller unter der Halle – das wussten sie – gab es nicht, das Innere des Raumes war ihnen durch ihre Arbeiten bekannt, nur die Fundamente des Schaltraums konnten sie lediglich über das Mauerwerk einschätzen. Allein mit dem Wissen um diese geeignete Stelle, ließen sie sich vor dem Pfingstwochenende auf dem Betriebsgelände einschließen. Mithilfe einer Leiter stiegen Sie über die „Oberlichter“ in das Transformatorabteil der Werkshalle der Kleinmechanischen Abteilung, die sich in unmittelbarer Nähe zur Grenze befand. Erst als sie sich im Inneren des Transformatorabteils befanden, stellten sie fest, dass es unmöglich war, die Gebäudemauer zu durchbrechen. Zum Glück war vor den Stahltüren, die von den Traforäumen in Richtung Westen öffneten - und somit auf den Kontrollweg vor der Mauer führten – ein Lichtschacht in den Boden eingelassen. Da der Teil des Lichtschachts, der sich außerhalb des Gebäudes befand, nach oben nur spärlich mit einem Blech abgedeckt war, konnten die drei jungen Männern den bereits verwitterten Zement aus der Wand des Schachtes mit einem Schraubenzieher abkratzen und sich so ins Erdreich vorarbeiten.
Sie gruben zunächst ca. 90 cm in die Tiefe und hoben unten eine kleine Höhle aus, in der sie sich drehen konnten. Von dieser Einstiegshöhle aus gruben sie einen Tunnel Richtung Westen, der nicht größer als 40 cm im Durchmesser war. Da sie außer Klappspaten und Schraubenzieher kein weiteres Werkzeug oder Material bei sich hatten, mussten sie den 6-8 m langen Schacht mit den Mitteln vorantreiben, die sie bei sich führten. Die räumlichen Verhältnisse hätten aufwendigere Arbeiten ohnehin nicht zugelassen, so dass beispielsweise Abstützungen von vorneherein nicht angedacht waren. Auf der Seite der Grenzmauer angekommen, hoben sie wieder eine kleine Höhle zum Sitzen und Wenden aus. Mit ihrem Tunnel kamen die drei Männer an einer Stelle der Mauer heraus, die sich später als Mauerpfeiler erwies. Da es ihnen nicht gelang diesen zu untergraben, mussten sie letztendlich wie bei dem Lichtschacht den Mörtel zwischen den Pfeilersteinen herauskratzen und sich so einen Weg freilegen. Da das Terrain westlich der Mauer niedriger war als auf der östlichen Seite, lag der Mauerdurchbruch genau auf der Ebene der Erdoberfläche.
Der Tunnelausstieg
Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin


Nachdem der Mauerdurchbruch fertig gestellt war, verbarrikadierten die drei jungen Männer das Einstiegsloch zum Tunnel mit den freigelegten Steinen, einer Eisenplatte und Sand, um sicher zu gehen, nicht doch noch unmittelbar während des Fertigstellens des Tunnels gestoppt zu werden. Als Bert V., der das Verbarrikadieren des Einstiegsloches übernommen hatte, als letzter aus dem Tunnel kriechen wollte, stürzte dieser über ihm ein. Seine beiden Arbeitskollegen konnten ihn allerdings noch rechtzeitig aus dem Tunnel herausziehen.
Auf Westberliner Gebiet angekommen, verließ Udo P. als erster das Ausstiegsloch und informierte die Polizeiinspektion Reinickendorf über den Fluchtversuch. Michael J. und Bert V. verließen ca. eine Stunde später das Tunnelloch und wurden von bereits wartenden Polizisten in Obhut genommen.
Nachdem die Flucht der drei jungen Männer bemerkt worden war, durchsuchten Grenzpolizisten das Betriebsgelände und die Wachtürme wurden vorübergehend mit Doppelposten besetzt.




















Grenzpolizisten durchsuchen direkt nach der Flucht das Werksgelände
Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin





















Zur Sicherheit wurden die Wachtürme nach Bekanntwerden der Flucht mit Doppelposten besetzt
Quelle: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin

Der Fluchttunnel wurde erst im späteren Verlauf des 12.6.62 entdeckt und liquidiert.

1 VEB = VolksEigener Betrieb
2 MVP = Museumsverbund Pankow

Quellen und Literatur
1. Literatur
Arnold, Dietmar; Kellerhoff, Sven Felix (2011): Die Fluchttunnel von Berlin; Berlin, List
Kaschuba, Wolfgang (2003): Einführung in die Europäische Ethnologie; München, C.H. Beck
Museumsverbund Pankow (Hg.) (2009): Energie aus Wilhelmsruh. Geschichte eines Berliner Industriestandortes; Berlin, text.verlag
2. Interview
Bert Vogeler (Interview, 13.4.2012)
3. Archivalien
a) Polizeihistorische Sammlung
Bild-Nr.: flu 17 a
Bild-Nr.: flu 17 b
Bild-Nr.: flu 17 c
Nachricht an die Senatsverwaltung für Inneres: PI Rd 1 – 13.30/62
Meldung: + r 291 an s, pgr n u. Pi rd
Vermerk zur Meldung: App. 2921
b) Museumsverbund Pankow
Schwerpunkt (Betriebszeitung der SED-Betriebsparteiorganisation des VEB Bergmann-Borsig-Wilhelmsruh; 1960-1963
4. Verwendete Zeitungen
Berliner Zeitung (Ost-Berlin); Berliner Morgenpost (Berlin); BZ ; BILD (Berlin Ausgabe)

Text: Sandra Müller